4.       Die Heilstreppe als Fürbittmuster beim Partikular- und beim Weltgericht

4.1         Wandel in den Darstellungen Jesu und Marias seit dem Hochmittelalter

 

In zahllosen Holzschnitten und gemalten Pestbildern war die Heilstreppe als Modell der Fürbitte Jesu und Marias in der Christenheit bekannt geworden. Erst spät, wie wir gesehen haben, hat sich dieser Bildtypus neben den altehrwürdigen, oft strengen und würdebetonten Darstellungen von Jesus und Maria durchgesetzt. Diese selbst waren zunehmend auch durch andere ikonographische Muster abgelöst worden, die sich aus der Theologie und Mystik des Hochmittelalters ableiteten. Die Betonung der Menschheit Jesu und die damit einhergehende Hervorhebung der Mittlerschaft Mariens bildeten das theologische Programm für die neuartigen künstlerischen Expressionen.

 

Der „Crucifixus“, der „Schmerzensmann“ und auch der „Gnadenstuhl“ veranschaulichten das Erlöserleiden Jesu; dem entsprach die „Pieta“ oder das „Vesperbild“ als Ausdruck der Compassio, der mitleidenden Mutter Jesu. Bei der Darstellung Marias in Bild oder Skulptur setzte sich dann aber viel stärker noch ein anderes Grundverständnis durch, das einen breitgefächerten künstlerischen Ausdruck fand: Maria als die Mutter, die sich ihrem Kind und den Menschen liebevoll zuwendet. Die „Schöne Madonna“, die nährende Mutter (Maria lactans), die Königin, auch als Rosenkranzkönigin, die Priesterin, die Jungfrau, die Schutzmantelmadonna: Ausdrucksformen, die dem Bedürfnis der Menschen nach Nähe, Menschlichkeit, Verehrung, Bewunderung und Schutz entgegenkamen. Nicht marianische Spekulationen der „theologischen Experten“ waren dabei entscheidend; „Leitvorstellungen der von mittelalterlichen Laien gepflegten Marienfrömmigkeit waren Schutz und Fürbitte, nicht Ideale einer asketischen Lebensführung, die für die Masse der Gläubigen unerreichbar blieben.“[280]

 

Dieser Erwartung des Volkes entsprachen im allgemeinen die Darstellungen der religiösen Kunst, am ausdrucksstärksten in den späteren Pestbildern, wo Maria in auswegloser Situation allerletzte Zuflucht war. Ihre Fürbitte erst veranlaßte auch Jesus zum Eingreifen, und ihnen beiden gelang vielleicht das sonst Unmögliche: den Zorn des richtenden Vaters zu besänftigen.

 

Das Mittel dieser erfolgreichen oder zumindest erfolgversprechenden Interzession ist uns inzwischen hinlänglich bekannt: bei Maria der Hinweis auf ihre mütterlichen Brüste, bei Jesus der entsprechende Hinweis auf seine geöffnete Seite, seinen Opfertod also für die Sünder.

 

4.2         Die Interzession Jesu und Marias beim Partikulargericht

 

Diese doppelte Geste blieb in der Ikonographie des ausgehenden Mittelalters, wie oben angedeutet, nicht auf die Pestbilder beschränkt. Die jetzt auch in der Malerei aufkommenden Gerichtsbilder, deren große Vorbilder sich bereits, in Stein gehauen, in den Tympana der gotischen Kathedralen finden, nehmen das Motiv unverändert auf und bereichern seine Darstellung durch zusätzliche, situationsbedingte Aspekte.

 

Die vielfältigen Variationen dieses Themas sind nicht als Ergebnis künstlerischer Gestaltungslust zu verstehen. Sie sind viel eher der Reflex auf die alles beherrschende Sorge der Christen damals: Wie werde ich vor dem Gericht Gottes bestehen können? Wie wird das alles entscheidende, mein ewiges Leben bestimmende Urteil Gottes ausfallen, wenn zunächst meine Seele, wenn ich am Ende mit Leib und Seele vor den Schranken seines Gerichts erscheinen muß?

 

 

„Weh, was wird ich Armer sagen,

Welchen Anwalt mir erfragen,

Wenn Gerechte selbst verzagen?“[281]

 

Seit dem heiligen Augustinus galt die feste Überzeugung, daß nur wenige Menschen das glückbringende Ziel erreichen werden und die Masse der Verdammung anheim fallen müsse.[282] Wie sollte man mit dieser existentiellen Frage ins reine kommen, wenn nicht, wiederum, mit der Hilfe der Gottesmutter?

 

Schon am Sterbebett setzte ihr Beistand ein, wenn Engel und Teufel um die dem Körper entweichende Seele stritten.[283] Wenn im Vorgericht der heilige Michael die Seelen wägte nach Verdienst und Sündenschuld, konnte Marias Eingreifen die richtige Schale auffüllen und der Waage den heilbringenden Ausschlag geben. Und bevor die Seele den Urteilsspruch Gottes anhören mußte, zeigte Maria ihrem Sohn mit ihrer offenen Brust ihre mütterlichen Verdienste und bat ihn, mit ihr Fürsprache beim Vater für die angstvolle Seele ihres verstorbenen Dieners oder ihrer Dienerin einzulegen. Nach all dem standen die Aussichten gut, der Verdammnis zu entgehen. - Ein „Sterbebild mit Heilstreppe“ von 1590 aus dem Kloster Wettingen (nördl. Schweiz) soll diesen Vorgang veranschaulichen.[284] (Abb. 30).

 

Abbildung 30: Sterbebild mit Heilstreppe

 

Die Texte der Spruchbänder lauten (in leichter sprachlicher Anpassung):

 

1.      Der Sterbende: „O Jesu Christ, an diesem meinem letzten Ende befehl ich dir meine Seele in deine Hände.“

2.      Der Engel, der die Seele in Gestalt eines kleinen Kindes in Empfang nimmt: „Obgleich des Menschen Sünd sind groß, hofft er zu Gott und Maria Fürbitt und Trost.“

3.      Der Teufel: „Oho, die Seel ist jetzund mein, da ich sie voll Sünd erkenne zu sein.“

4.      Die Ehefrau (?): „O Gott und Herr, durch deinen harten bitteren Tod verleih diesem Sünder deine Gnade.“

5.      Maria: „Sohn, vonwegen der Brüste mein wollest diesem Sünder barmherzig sein.“

6.      Der Gekreuzigte: „Vater, erhör meiner Mutter Bitten durch die Wunden, die ich hab erlitten.“

7.      Gottvater: „Sohn, wer da bittet um deiner Mutter Namen, den will ich ewig nicht verdammen.“

 

Gott als würdevoller und ernster Richter streckt seine linke Hand segnend aus. Der Heilige Geist vollendet das Bild des Friedens. Maria weist auf ihre Brüste und nennt sie ausdrücklich im Spruchband, entblößt sie aber nicht mehr. Marti/Mondini deuten das als „Symptom gegenreformatorischer Zurückhaltung“,[285] nachdem durch das Konzil von Trient und durch Theologen wie Molanus (1533-1585), der sich aus Löwen eindrucksvoll zu Wort meldete,[286] eine gewisse Verunsicherung auch im katholischen Lager eingetreten war.

 

Das Motiv, warum sich einzelne Christen oder Familien solche Bilder malen oder herrichten ließen, liegt auf der Hand: Sie wollten „sich damit ein Wunschbild für ihr eigenes Ende“ [287] schaffen: „So wie im Bild dargestellt, hofften sie nach dem Tode gerettet zu werden.“

 

Diese Hoffnung auf Rettung kann sich auch sehr konkret auf ein bestimmtes Mitglied der Familie beziehen, das gerade gestorben ist und für das die anderen Familienmitglieder Fürbitte leisten. Das Epitaph, das an diese Situation erinnern soll, ist dann natürlich erst einige Zeit nach dem Tod des Angehörigen entstanden. Dadurch bekommt es wiederum einen überzeitlichen religiösen Wert: Es lädt den Betrachter zum fürbittenden Gebet ein und legt ihm gleichzeitig nahe, sich in rechter Weise auf sein eigenes Ende vorzubereiten.

 

Ein solches Bild, mit dem mich inzwischen eine kleine eigene Geschichte verbindet und das ich als repräsentativ für das gesamte Genre empfinde, möchte ich ein wenig ausführlicher vorstellen.

 

Bei meinen Recherchen zum Thema stieß ich auf eine Darstellung des Partikulargerichts, die sich „Epitaph der Dinkelsbühler Familie Scholl“ (Abb. 31) nennt und von einem unbekannten Künstler kurz nach 1500 gemalt worden ist. Das Bild war für die Dinkelsbühler Stadtpfarrkirche gestiftet worden[288], befindet sich jetzt aber in der St. Lambertuspfarrkirche in Erkelenz, einer kleineren Stadt im Kreis Heinsberg im Rheinland. Wegen verwandtschaftlicher Beziehungen zu dieser Gegend war ich öfters in Erkelenz, ohne von der Existenz des Bildes etwas zu ahnen. Darauf aufmerksam geworden durch eine entsprechende Angabe in einem Buch[289], war es trotzdem noch schwierig, das Bild in Augenschein zu nehmen, da die Kirche fast ständig geschlossen ist. Der Gottesdienst am Sonntag ermöglichte endlich den Zugang.

 

Das Bild ist an der Westwand des Kirchenschiffs ziemlich hoch aufgehängt. Das ungewöhnlich hohe Format und die mangelhafte Beleuchtung machten eine genauere Betrachtung kaum möglich, Fotos gab es nicht, Beschreibungen und dergleichen sollten erst nach der Renovierung der Kirche in eineinhalb Jahren zur Verfügung stehen. Die unauffällige Anbringung läßt darauf schließen, daß die Gemeinde nicht weiß, über welchen Schatz sie da verfügt. Allerdings ist damit auch ein gewisser Schutz gegeben.

 

Auskünfte gab auch ein umfangreiches Werk über die „Kunstdenkmäler der Kreise Erkelenz und Geilenkirchen“[290] vom Jahre 1904 nicht, obwohl die anderen Kunstschätze der Kirche St. Lambertus ausführlich vorgestellt werden; das Bild konnte zu der Zeit also noch nicht in der Kirche gewesen sein. Aber wie mochte es von Dinkelsbühl nach Erkelenz gekommen sein?

 

(Einfügung: Nach teilweiser Fertigstellung dieser Arbeit haben weitere Bemühungen zur Beantwortung der Frage ein wenig Erfolg gehabt. Der „Heimatkalender der Erkelenzer Lande“ von 1963 enthält eine sehr eingehende Beschreibung des Bildes von Irmgard Achter, wissenschaftlicher Referentin des Landeskonservators in Bonn, deren erster Satz lautet: „Als Stiftung des Erkelenzer Arztes und Kunstsammlers Dr. Lucas gelangte vor einigen Jahrzehnten ein künstlerisch und ikonographisch interessantes Votivbild in den Besitz der kath. Pfarrkirche St. Lambertus.“ Leider fehlen weitere Hinweise zum Erwerb des Bildes durch Dr. Lucas.)

 

Hier nun die Beschreibung: Es handelt sich um ein Bildepitaph, ein Gedächtnisbild also, das die Erinnerung an Verstorbene wachhalten, zum Fürbittgebet einladen und den Betrachter an sein eigenes Ende gemahnen soll; ein solches Gedächtnisbild befindet sich daher gewöhnlich an öffentlich zugänglicher Stelle, nicht aber unmittelbar am Grab des Verstorbenen. Das obige Epitaph wurde von der Familie Scholl gestiftet, deren Wappen unten im Bild zu sehen ist. Dargestellt wird das Paritukulargericht eines verstorbenen Familienangehörigen.

 

Textfeld: Abbildung 31: Partikulargericht mit HeilstreppeDas ungewöhnliche Hochformat (H: 186; B: 80 cm) ermöglichte es dem Maler, die Gerichtsszenerie in verschiedenen Etappen übereinander darzustellen. Im unteren Viertel kniet in frommem Gebet die kinderreiche Stifterfamilie, rechts die weiblichen, links die männlichen Angehörigen; im Hintergrund steht ein Katafalk oder der Sarg des Verstorbenen. Oberhalb der Umgrenzungsmauer schwebt in Aufwärtsbewegung als kleine, weiße menschliche Gestalt die Seele des Verstorbenen.

 

Sie befindet sich noch im Zwischenbereich von Erde und Himmel, einer Zone der „Lüfte“, die nach altjüdischer und auch mittelalterlicher Vorstellung von Satan, dem „Herrscher im Luftbereich“ (Eph 2,2 und 6,12) verunsichert wurde.[291] Das Motiv des langen, gefährlichen Weges über einen schmalen Steg[292], das frühere Darstellungen bevorzugten, war wohl schon aus der Mode; hier ist es der Aufstieg nach oben, bei dem höllische Geister angreifen, die aber von hilfreichen Engeln abgewehrt werden.

 

Noch hat die Seele den Seelenwäger St. Michael nicht erreicht, noch ist keine Vorentscheidung über das ewige Seelenheil des Verstorbenen getroffen, da setzen sich die mächtigsten Fürsprecher für die Seele ein. In den Wolken, schon in der himmlischen Sphäre, kniet fürbittend Maria. Wie auf fast allen Pest- und Gerichtsbildern zeigt sie vor ihrem Sohn und dem Vater auf ihre Brust, an ihre Verdienste erinnernd. Jesus kniet auf dem schwebenden T-förmigen Kreuz[293] und unterstützt mit vergleichbarer Geste die Fürsprache der Mutter. Mit dem ausgestreckten Zeigefinder der linken Hand weist Maria auf die heraufsteigende Seele und unterstreicht auf diese Weise, wem ihre Fürbitte gilt.

 

Wenn man dieser Linie von Marias Finger über die weiße Seele nach unten hin bis zu der betenden Familie folgt, erkennt man auch den Verstorbenen, der hier zwar noch betend unter seinen Angehörigen weilt, aber als einziger mit emporgerichtetem Haupt und Blick dem Weg seiner Seele folgt und sich so bereits – nur noch im Profil sichtbar – aus dem Kreis der Familie gelöst hat.[294]

 

Gottvater als Richter macht das (ikonographisch vorgeschriebene) ernste Gesicht, umgeben von Engeln mit Leidensmotiven Christi, die wiederum an die Erlösung und die Verdienste des Sohnes erinnern.

 

Somit stehen die Chancen für einen glücklichen Ausgang des Gerichtes für den Verstorbenen gut: Die Fürbitte der Familienangehörigen, der Einsatz der guten Engel „in den Lüften“, vor allem die kombinierte Interzession Jesu und Marias im Stil der Heilstreppe und schließlich die Engel am Thron Gottes mit den „Wappen Christi“ lassen ein günstiges Urteil erwarten.

 

Seiner primären Idee nach schildert das Bild das Individual- oder Partikulargericht eines Verstorbenen, für das nach Ansicht spätmittelalterlicher Theologen Gottvater als Richter zuständig war.[295] Die Interzession Jesu und Marias, die optisch und intentional die Darstellung beherrschen, ordnen das Bild eindeutig dem Tribunal misericordiae im Sinne Gersons zu. Die Komposition des oberen Bildteils erinnert zugleich an die Weltgerichtsdarstellungen, wenngleich dort die Rollen anders verteilt sind: „Gott hat dem Sohn alles Gericht übertragen“ (Jh 5,22), alle Völker erscheinen vor dem Thron des Menschensohnes (vgl. Mt 25,31 f.), um ihr Urteil entgegen zu nehmen.

 

Die Vielfalt der Motive und Aussageabsichten verwirren den Betrachter nicht. Der erzählende Charakter macht die Darstellung zu einem Lehrbild, das an den Ernst von Tod und Gericht gemahnt, aber auch den hoffnungsvollen Weg aufzeigt, der den Menschen schließlich zu einem guten Ende kommen läßt.

 

 

 

4.3         Das allgemeine Weltgericht und das Problem der Interzession

 

 „Flammis orci ne succendar

per te virgo, fac, defendar

in die judicii.“[296]

 

Die Bilder des allgemeinen Weltgerichts bedeuten für den heutigen Christen, wenn er theologische Überlegungen anstellt, schon eher ein Problem. Hier ist nicht mehr der Vater, sondern Christus der oberste und letzte Richter. Eigentlich sind für alle, die vor seinem Tribunal erscheinen müssen, die Würfel schon gefallen: „Diese (die Bösen) werden eingehen in die ewige Pein, die Gerechten aber in das ewige Leben.“ (Mt 25,46). Da alle Werke zum Heil getan oder auch nicht getan worden sind, hilft kein Weinen und keine Fürbitte mehr.

 

Trotzdem erscheint Maria auch auf diesen Bildern (Abb. 32 und 33) als Fürsprecherin, die an das Erbarmen des Richters appelliert und um Gnade für ihre Kinder fleht. Ihr gegenüber steht fast immer Johannes der Täufer als Vertreter des Alten Testaments, der Marias Bitten unterstützt.

 

  

Abbildung 32: Der „Teufelsprozeß vor dem Weltgericht“

Abbildung 33: Deësis: Maria und Johannes d. T. beim Weltgericht

 

Diese symmetrische Bildkomposition, Maria zur Rechten, Johannes zur Linken Jesu des Richters bittend, nennt man Deësis (Fürbitte). Sie ist charakteristisch für die meisten bildlichen Darstellungen des Weltgerichts. Der untere Teil des Bildes zeigt gewöhnlich die Auferstehung der Toten, die sich, oft mit Unterstützung von Engeln oder Teufeln, heiter oder widerwillig aus ihren Gräbern erheben und nach dem Richterspruch in der Gemeinschaft der Erlösten, geleitet von Petrus, in den Himmel hinaufziehen oder, von den Teufeln in Ketten geschlagen, in die Hölle gezerrt werden. Auf einigen Bildern nimmt Maria die Geretteten unter ihren Mantel, nicht mehr, um sie zu schützen, sondern um anzudeuten, daß die Erlösten mit Marias Hilfe ihr ewiges Heil erreicht haben.[297]

 

Daß beim Weltgericht nicht mehr verhandelt werden kann und damit auch für die Fürbitte kein Platz mehr ist, war dem spätmittelalterlichen Menschen klar. Aber nicht immer war dieses Wissen vorher so eindeutig, wie überhaupt die Vorstellungen vom Zustand des Menschen zwischen irdischem Tod und Auferweckung am Ende der Zeit und dem dann anstehenden Gericht höchst ungenau, ja widersprüchlich waren.

 

4.4         Theologische Klärungsversuche

 

Der Zwiespalt ist bereits im Evangelium angelegt. Während bei Matthäus alle Menschen vor dem eschatologischen Richter erscheinen müssen, um ihr Urteil entgegen zu nehmen (Mt 25,31 ff.), heißt es bei Johannes: „Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist vom Tode zum Leben übergegangen.“ (Jh 5,24). Diese „präsentische Eschatologie“ hindert Johannes aber nicht daran, von der künftigen Vollendung bei der Auferstehung der Toten zu sprechen. (Jh 5,28 f.). In dieser „futurischen Eschatologie“ wird ein schreckliches Gericht für die Bösen und Ungläubigen angekündigt.[298]

 

Die Widersprüchlichkeit der zeitlichen Einordnung von Heil, Auferstehung und Gericht ergibt sich letztlich aus der Erfahrung der Parusieverzögerung, dem vergeblichen Warten auf die vermeintliche Wiederkunft Christi noch zu Lebzeiten der Apostel. Die theologische Bewältigung dieses Problems fiel recht unterschiedlich aus.[299] Als man die Wiederkunft Christi in der Folgezeit eher als „Glaubensartikel“ behandelte denn als unmittelbar zu erwartendes Heilsereignis, war für die Theologen der Väterzeit die Frage des „Interims“, des Ortes und Zustandes der Menschen zwischen ihrem Tod und der Auferstehung, zu klären. Dabei griff man auf alttestamentliche Vorstellungen zurück und machte auch Anleihen bei den Mythen der Ägypter und Griechen.

 

Wesentliche Stationen theologischer Deutung auf dem Wege zum Mittelalter stellen Augustinus und Gregor d. Gr. dar, die auch als „Väter des Fegefeuers“[300] gelten. Nicht nur die unterschiedlichen Aufenthaltsorte, auch die Wege dorthin waren Gegenstand von theologischen Spekulationen und der von „Visionen“ genährten Volksmeinungen. Manches davon spiegelt sich noch in den Gebeten und Begriffen der Totenliturgie und der Versorgung der Sterbenden bis heute wider. So bedeutet etwa das Viaticum, der letzte Kommunionempfang, die Stärkung auf dem langen und gefährlichen Weg (Wegzehrung) ins Jenseits.

 

Dieser Weg führte nicht selten über eine Jenseitsbrücke,[301] die sehr vielen bereits zum Verhängnis wurde, bevor sie den Fuß auf den sicheren Boden eines paradiesischen Landes setzen konnten[302]. (Abb. 34).

 

Abbildung 34: Jenseitsbrücke als vortheologisches Modell

4.5         Ambivalenter Volksglaube an die fürbittende Macht Marias

 

Die verbliebenen Uneindeutigkeiten über das Los der Verstorbenen (Es fehlte ein absolut „kohärentes Jenseitssystem.“[303]) öffneten dem zweifelnden und dem hoffenden Menschen immer wieder einen Silberstreif der Zuversicht auf eine letztlich glückliche Wendung des Geschicks. Hatte nicht selbst der große Papst Gregor gegen die „Jenseitsregeln“ verstoßen, als er für die Seele des verstorbenen heidnischen Kaisers Trajan betete und sie so aus der Hölle befreite?[304]

 

Auch von der sehr volkstümlichen heiligen Odilia (geb. um 660) wußte man, daß sie ihren grausamen Vater aus dem Höllenschlund freigebetet hatte (Abb. 35). Nach der Festigung der Fegefeuerlehre wurde der Vater allerdings nicht mehr „ab inferno“ befreit, sondern hatte nur noch „in purgatorio“ zu leiden gehabt (Abb. 36). So jedenfalls brachte eine Hinzufügung zur Legenda aurea das Problem auf den neusten theologischen Stand.[305]

 

   

Abbildung 35: Odilia betet ihren Vater frei: aus der Hölle

Abbildung 36: Odilia betet ihren Vater frei: aus dem Fegefeuer

Solche „Ausnahmen“ vermochten den Fürbitteifer für Verstorbene, deren Schicksal letztlich ja ungewiß war, nur anzufachen und die Menschen dazu zu ermutigen, auch Maria um Fürbitte anzugehen, um den Verstorbenen im letzten Augenblick vielleicht noch vor dem Höllenschlund zu bewahren; jedenfalls legen die Deësis-Darstellungen diese Interpretation nahe.

 

„Trotzdem wußte auch das Volk im Mittelalter, daß beim jüngsten Gerichte keine Sünde mehr verziehen, keiner vor der verdienten Hölle bewahrt werden könne.“[306] In Gedichten und geistlichen Schauspielen wurde diese Überzeugung anschaulich gemacht und vertieft.[307] Im Rheinauer Spiel tritt auch Maria auf, begleitet von den zwölf Aposteln, um Fürbitte einzulegen.[308]. Maria verweist vor ihrem Sohn auf die Verdienste ihrer Mutterschaft, aber vergebens. Jesus spricht die Mutter liebevoll an und versichert ihr, daß kein Sünder verloren gehen soll, der Maria vor seinem Tod um Hilfe anruft. Aber wer absichtlich in der Sünde verharrt und darin stirbt, der ist verloren, selbst wenn Maria, die Heiligen und die Engel blutige Tränen weinen: „Das mochte alles sie nit verfan (erretten), Sie müsend in die Helle gan.“[309] So oder ähnlich enden alle diese aussichtslosen Versuche der Gottesmutter in den volkstümlichen Spielen dieser Art; hier versagt selbst die „patrona causarum desperatarum“.[310]

 

Wie verbreitet trotzdem die Sicherheit im Volk war, „daß Christus gar nicht anders könne, als seiner Mutter den Gnadenwunsch für ihre Schützlinge zu erfüllen“ auch „gegen seine eigene Rechtsüberzeugung,“[311] mag eine Historie von 1322 veranschaulichen. Der thüringische Landgraf Friedrich der Freidige wohnte einem Schauspiel bei, in dem Marias Fürbitte von ihrem Sohn sanft aber konsequent abgelehnt wird. Daß selbst die Hilfe Marias den Menschen im Gericht nicht retten konnte, schockierte den Fürsten so sehr, daß er in „Raserei und Schwermut“ an Gottes Barmherzigkeit verzweifelte, krank wurde und „vorzeitig“ starb.[312]

 

Alle Darstellungen der Interzession Marias, ob auf Pestbildern oder Gerichtsdarstellungen, müssen wir mit den Augen der Menschen der damaligen Zeit zu betrachten versuchen. Es handelt sich ja nicht in erster Linie um dogmatische Lehrbilder, an denen sich die Auffassungen der Theologen oder die Lehren der Kirche ablesen ließen. Sie sind vielmehr Ausdruck des frommen Vertrauens zu Maria, wie das Volk es fühlte und verstand. Das theologische Programm, das sicher in den meisten Fällen hinter der ikonographischen Ausführung stand, hatte paränetischen Charakter: Es forderte zu einem Leben auf, das den Zorn Gottes besänftigen und am Ende zu dem erwünschten ewigen Ziel führen konnte. Daß Jesus als Mediator und seine Mutter als Mediatrix und alle Heiligen als zusätzliche Fürsprecher die eigenen Bemühungen wesentlich unterstützen konnten, war Hoffnung und Trost zugleich.

 

In der selben Weise sind die Gebete und Lieder jener Zeit zu verstehen. Selbst das ernste „Dies irae“ ist ja für den Beter keine realistische, endgültige Schilderung seiner Existenz vor Jesu Richterstuhl. Noch ist er als angesprochener oder selbst sprechender Beter in das Geschehen nicht involviert, aber es handelt sich um den eindringlichen Appell an eine gewissenhafte Lebensführung und zugleich an das Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes.

 

„Strenger Richter aller Sünden,

laß mich hier Verzeihung finden

eh der Hoffnung Tage schwinden.“[313]

 

5.         Geistliche Themen zu weltlichen Zwecken

 

5.1         Ikonographischer Mißbrauch religiöser Motive

 

Wir haben versucht, die Brustweisung und Fürbitte Marias als Modus der Interzession bei den Pestbildern zu erklären und die Herkunft, die Entwicklung und den Sinn dieses Motivs nachzuzeichnen.

 

Leider führte der ikonographische Mißbrauch dieses Motivs zu einer Abwertung oder auch zur Ablehnung einer solchen Brustweisung, abgesehen von den theologischen Einwänden, die aus dem protestantischen Lager gegen die Stellung Marias als Fürsprecherin und Mittlerin der Gnaden vorgebracht wurden.

 

Die Renaissance liebte die Darstellung des schönen menschlichen Körpers, auch in seiner Nacktheit. Begnügten die Künstler und ihre Auftraggeber sich zunächst mit Neuauflagen und Verherrlichungen antiker und mythologischer Gestalten, wagte man sich zunehmend auch an die Darstellung biblischer Szenen und religiöser Repräsentanten. Dabei bevorzugte man solche biblischen Themen, in denen Frauen eine besondere Rolle spielten. Was nach außen hin als sakrale Kunst firmierte, sollte in Wirklichkeit profane, oft genug laszive Motive legitimieren. In voyeuristischer Manier beobachtete man Susanna im Bad oder schaute mit David genüßlich der Frau des Urias zu. Nicht anders erging es Eva, Lots Töchtern, Rebekka, Rahel, Lea, Tamar, Potiphars Frau, Rahab, Delila, Abigail, Batscheba, der Königin von Saba, Judith, Esther und immer von neuem Susanna.[314]

 

Im Neuen Testament setzte sich die Suche fort: Martha und Maria, Maria von Magdala, Herodias und Salome, die Frau der Salbung – keine Frau blieb ausgespart, fast alle mußten ihre weiblichen Reize vorführen und sich unter dem frommen Vorwand der religiösen Kunst den lüsternen Blicken der Betrachter aussetzen.

 

Nur bei der Darstellung der Gottesmutter übte man allgemein Zurückhaltung – mit unrühmlichen Ausnahmen. Ein extremes Beispiel eines solchen ikonographischen Mißbrauchs stellt das Bild von Jean Fouquet dar: „Die Jungfrau mit dem Kinde“. Es wurde um 1450 gemalt und befindet sich heute im Koninklijk Museum voor Schone Kunsten in Antwerpen. (Abb. 38).[315]

 

Johan Huizinga schreibt dazu:[316] „Hier kommt es entschieden zu jener gefährlichen Annäherung des religiösen und des erotischen Fühlens, die die Kirche in dieser Form aufs äußerste fürchtete. Nichts veranschaulicht jene Berührung so lebendig wie die Jean Fouquet zugeschriebene Antwerper Madonna.“ Eine alte „Tradition will wissen, daß die Madonna die Züge der Agnes Sorel trägt“,[317]der Mätresse König Karls VII. von Frankreich (1403 – 1461), jenes Mannes, den Jeanne d´Arc auf den Thron Frankreichs und zur Krönung in Reims drängen mußte.

 

Die Richtigkeit dieser Zuschreibung kann ich bestätigen mit einem Bild dieser Mätresse, das ich vor Jahrzehnten bei der Vorbereitung einer Fahrt zu den Schlössern der Loire in einem Büchlein entdeckte.[318] (Abb. 37). Die Übereinstimmung beider Frauen ist eindeutig. Der Stifter des Madonnenbildes, Etienne Chevalier, war Schatzmeister des Königs und empfand für die Mätresse des Königs „eine unverhohlene Leidenschaft.“[319] Er selbst ließ sich - pikanterweise - auf dem anderen Flügel des Diptychons zusammen mit dem hl. Stephanus darstellen.[320] Fouquet war übrigens der Hofmaler Karls VII.

 

  

Abbildung 37: Agnes Sorrel als königliche Mätresse

Abbildung 38: Agnes Sorrel, „Die Jungfrau mit dem Kind

 

Zur dargestellten Person selbst schreibt Huizinga: „Es ist in der Tat, bei allen hohen malerischen Qualitäten, eine Modepuppe, die wir vor uns sehen mit der gewölbten, kahlgeschorenen Stirn, den weit auseinanderstehenden kugelrunden Brüsten, der hohen, dünnen Taille, (...) alles trägt dazu bei, dem Gemälde einen Hauch dekadenter Gottlosigkeit zu verleihen.“[321]

 

In einem Kunstlexikon[322] heißt es dazu: „Die Profanierung heiliger Gestalten war im 15. Jahrhundert geläufig[323], und der Brauch, auch die anerkannten Mätressen des Königs darzustellen, geht auf Karl VII. zurück.“

 


5.2         Reformatorische und kirchliche Kritik

 

Vor allem die reformatorische Kritik war es, die auch zu entsprechenden Reaktionen im katholischen Bereich führte.

 

Luthers Hochachtung vor der Gottesmutter ist unbestritten; er hatte sogar „in seiner Stube ein Marienbild aufgehängt“[324], allerdings nicht als Kultbild, da er dafür keine biblische Grundlage sah. Und wenn man ein Bild so malt, daß Maria dem Sohn „ihre Brüste weist, so heißt das den Teufel predigen und nicht Christus.“[325] Und zu einer Darstellung des heiligen Bernhard, auf die an späterer Stelle noch eingegangen wird, sagt Luther: „Und man hat S. Bernhard so gemalet, das er die jungfraw Maria anbetet, welche jhrem Son Christo weiset die brüste, so er gesogen hat, ach was haben wir der Marien küsse gegeben, aber ich mag Marien brüste noch milch nicht, denn sie hat mich nicht erlöset noch selig gemacht.“[326]

 

Zwinglis Kritik fällt wesentlich schärfer aus: „Hie stat ein Magdalena so huerisch gemaalet, das ouch alle pfaffen ye und ye gesprochen habend: wie könnd einer andächtig sin, mäss ze haben? Ja die ewig rein unversert magt und muoter Jesu Christi, die muoss ire brüst harfürzogen haben.“[327]

 

Auch der Basler Theologe Oekolampadius übte an den entsprechenden Darstellungen Kritik und meinte, „solche Gesten wie Brust- und Wundenzeigen würden im Himmel sicher nicht ausgeführt.“[328] Und Calvin wetterte im 3. Buch der „Institutio“: „Was sind die Bilder der Heiligen anders als Beispiele der verkommensten Ausschweifung und Obszönität? Fürwahr die Dirnen in den Freudenhäusern sind züchtiger und bescheidener gekleidet als jene Bilder von Jungfrauen, die man in den Kirchen zeigt.“[329]

 

Eine wandalistische Zerstörungswut richtete im Gefolge der Reformation in der Schweiz, auch in Straßburg und Antwerpen und vielerorts in Kirchen und Klöstern unermeßlichen Schaden an den religiösen Kunstwerken an, nicht wegen möglicher Indezenz, sondern aus fehlgeleitetem religiösen Eifer und aus purer Zerstörungswut. Luther hat ein solches Vorgehen nicht gutgeheißen (gegen Karlstadts Verhalten in Wittenberg) und ebenso wenig die Humanisten wie Erasmus. Der hatte sich zwar auch an manchen Formen der Heiligenverehrung gestört und im „Lob der Armut“ zur allgemeinen Freude[330] seinen Sarkasmus und Spott darüber ausgegossen. So mokierte er sich darüber, daß man der Muttergottes am hellichten Tag Lichter anzündet (Abb. 40) oder den heiligen Christophorus anschaut, um sicher sein zu dürfen, an diesem Tag nicht eines plötzlichen Todes zu sterben, wie es der Volksglaube unbeirrt behauptete (Abb. 39). Die riesenhafte Figur des Heiligen als Gemälde an der Außenwand der Kirche oder als Statue gegenüber der Eingangstür im Inneren erleichterte den Vorübergehen den heilsamen Blick auf Christophorus.[331] Aber Erasmus verspottete „die Verehrung ausschließlich der Bilder und nicht dessen, wofür sie stehen“[332].

 

    

Abbildung 39: Bilder aus dem „Lob der Torheit“: Hilfreicher Blick auf Christophorus

Abbildung 40: Kerzen für die Gottesmutter am hellichten Tag

 

Schon der heilige Bernhard hatte vor Luxus und religiös bedenklichen Darstellungen in der Kunst gewarnt, auch Johannes Gerson, wie wir bei der Besprechung der Schreinmadonnen gesehen haben, aber die Proteste der Reformatoren und Humanisten erforderten endlich eine offizielle Stellungnahme der Kirche. Auf der Abschlußsitzung des Tridentinischen Konzils, unter dem Druck des allgemeinen Aufbruchs, verabschiedeten die Väter am 3. Dezember 1563 das Dekret „De invocatione, veneratione et reliquiis Sanctorum et sacris imaginibus.“

Darin warnen sie vor einem falschen Verständnis der Bilder, betonen aber auch ihren heilsamen Wert (Dz 986). Im letzten Abschnitt (Dz 988) wird wiederum gewarnt, Bilder aufzustellen, die dogmatisch falsch seien und den Ungebildeten gefährlich werden könnten. Hubert Jedin, der große Kirchengeschichtler[333], führt das bei Denzinger abgebrochene Zitat[334] weiter: „omnis denique lasciva vitetur, ita ut procaci venustate imagines non pingantur nec ornentur.“

 

Vom Verbot lasziver Darstellungen bis zur Durchsetzung des Dekrets war allerdings ein weiter Weg. Ein Umdenken war gerade auch an höchster Stelle in Rom geboten „gegen einen Paganismus, der an dem Schönheitskult der Renaissance, wie er im vatikanischen Belvedere und in den Palästen der Kardinäle noch unbekümmert getrieben wurde“ bislang festhielt.[335] Jedin fügt in der Fußnote Nr. 56 eine schriftliche Bemerkung des letzten katholischen Bischofs von Uppsala, Olaus Magnus, von 1552 über einen Kardinal in Rom hinzu: “Vidi enim in palatio eius (...) super ianuas eius spectra, faunos, satyras et nudarum imagines mulierum (...) ut habetur in bella videre (sc. Belvedere), in quo nullus securior est quam caecus.“[336] Nur ein Blinder also kann sich vor soviel Weltlichkeit retten.

 

Der niederländische Theologe Johannes Molanus (1533 – 1585), „der Vorkämpfer für eine orthodoxe Bildlichkeit“[337], vertrat zwar insgesamt eine mittlere Linie, trug aber doch durch seine Einmischung zu einem verschärften Bewußtsein im katholischen Lager bei.

 

Norbert Elias äußert sich in seinem bekannten Werk „Über den Prozeß der Zivilisation“[338]

über „jene eigentümliche Modellierung des Triebhaushaltes, die wir als ‚Scham‘ und ‚Peinlichkeitsempfinden‘ zu bezeichnen pflegen. Beide, der starke Schub von Rationalisierung und das nicht weniger starke Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwelle, die besonders vom 16. Jahrhundert an im Habitus der abendländischen Menschen immer spürbarer wird, sind verschiedene Seiten der gleichen psychischen Transformation.“

 

Ob nun die neue Sicht die Scham gefördert oder umgekehrt das wachsende Schamgefühl zu einer neuen Beurteilung der allzu freizügigen religiösen Kunst geführt hat, festzuhalten ist, daß sich diese Veränderungen anbahnen. Marti/Mondini geben allerdings zu bedenken, daß die im religiösen Raum reduzierte „Darstellung von Nacktheit“ dazu führte, sie „im profanen, privaten Rahmen um so mehr zu feiern.“[339] Diese Ambivalenz zeigte sich z.B. auch bei Rubens: „Obwohl er in anderen Werken sehr frei ist und viele seiner Zeitgenossen daran keinen Anstoß nahmen, suchte er doch in religiösen Darstellungen das Gefühl strengerer Sittenrichter zu schonen.“[340]

 

Welche Auswirkungen das neue Schamgefühl auch haben konnte, zeigt die Übermalung, die „Bekleidung“ der Nudi in der Sixtinischen Kapelle,[341] die später von Spöttern mit „Hosen anziehen“ gegeißelt wurde.

 

Der erotisch motivierte Mißbrauch der religiösen oder religiös verbrämten Kunst konnte sich nach allem nicht länger behaupten. Leider hatten die Verwüstungen der protestantischen Bilderstürmerei aber auch in fast allen Ländern der Christenheit einen unschätzbaren Schaden angerichtet. Wie immer bei solchen Exzessen, wurde mit dem Unkraut vielfach auch der Weizen mitausgerissen.[342]            

 

Mit der beginnenden Umschichtung der Mentalität im 16. Jahrhundert, wie Norbert Elias sie beschreibt, verstärkte sich der Trend zur „Wohlanständigkeit“ und damit auch zu einer größeren Zurückhaltung in der Darstellung von religiös anfechtbaren erotischen Motiven. Die ausklingende Renaissance und der heraufziehende Barock ließen allerdings, wie die Kunstgeschichte zeigt, genügend Raum für erotisch-anzügliche oder laszive Darstellungen, jedenfalls in den adeligen und großbürgerlichen Kreisen, die sich „Kunst“ leisten konnten. Gleichzeitig setzte sich ein Zug zur Prüderie durch, der seine Wurzeln in den sehr verbreiteten pietistischen Strömungen (protestantischer und katholischer Couleur) hatte[343] und wohl auch von den soziologisch und psychologisch neuen Bedingungen genährt wurde.[344]

 

In der (katholischen) Nazarenerkunst des 19. Jahrhunderts mit ihren etwas blutleeren Personendarstellungen ist das erotische Element ganz verschwunden (oder wenigstens platonisch „aufgehoben“). Was die Mariendarstellungen dieser Zeit, in Bildern und Figuren, angeht, so repräsentieren sie die asketische Linie der keuschen, sündenlosen, unbefleckten jungfräulichen Maria – entsprechend der kirchlicherseits propagierten Marienfrömmigkeit. In diesem Bereich lebte das sonst so umschwärmte Mittelalter im 19. Jahrhundert nicht wieder auf. Gegen diese Tendenz resümiert Klaus Schreiner: „Leitvorstellungen der von mittelalterlichen Laien gepflegten Marienfrömmigkeit waren Schutz und Fürbitte, nicht Ideale einer asketischen Lebensführung, die für die Masse der Gläubigen unerreichbar blieben.“ [345]