3.       Merkmale der Pestbilder – ihre Herkunft und Charakterisierung

 

Die vorgestellten Pestbilder lassen bei aller Besonderheit im einzelnen gemeinsame und häufig wiederkehrende Motive erkennen. Es sind

 

·        Der zürnende Gott

·        Die Schutzmantelmadonna

·        Die bedrohten und schutzsuchenden Menschen

·        Die Interzession Marias durch Brustweisung und Fürbitte

Darunter: Der Schmerzensmann als Fürsprecher und Die Geburtsstunde der Heilstreppe

 

In den folgenden Kapiteln soll versucht werden, die Herkunft dieser Motive, die ja keineswegs selbstverständlich sind, zu klären und dann hinsichtlich ihres geschichtlichen, theologischen und ikonographischen Zusammenhangs zu bestimmen.

 

Für jedes dieser Motive, so werden wir sehen, gibt es einen „literarischen Vorlauf“, der oft seinerseits auf geschichtliche oder mythologische Vorformen zurückgreifen kann. Die Reihenfolge rückwärts (in zeitlicher Hinsicht) lautet also: ikonographische Darstellung – literarische Vorarbeit – geschichtliche oder mythologische Verwurzelung.

 

Zur ersten Junktion schreibt V. Sussmann: „Wie fast immer findet sich der Gedanke eher in der Literatur als in der bildenden Kunst.“[97] Zahlreiche andere Autoren bestätigen diese Erfahrung. Es wird an gegebener Stelle darauf aufmerksam gemacht werden.

 

3.1         Der zürnende Gott

 

Das große Paradoxon der Pestbilder besteht darin, daß Gott als der Feind der Menschen auftritt. „Es reute den Herrn, auf der Erde den Menschen gemacht zu haben, und es tat seinem Herzen weh.“ (Gen 6,6) Und danach folgt der Entschluß: „Ich will den Menschen, den ich erschaffen habe, vom Erdboden vertilgen.“ (Gen 6,7). Aus der Zeit Noachs wußte man von einem solchen Denken und Handeln Gottes.

 

Die Menschen des 14. und 15. Jahrhunderts, die nach der ersten, europaweiten Pest von 1347 – 1352 in kurzen Abständen von immer wieder neuen Pestwellen[98] überrollt wurden, lebten und starben in dem Bewußtsein, von Gott schwer heimgesucht zu werden. „Für das Volk (...) konnte es nur eine Erklärung geben, der Zorn Gottes.“[99] Papst Klemens VI. selbst ließ 1348 in einer Bulle verlauten, daß „Gott die Menschheit mit der Seuche geschlagen hat.“[100] Aber warum? Die alttestamentliche Auffassung vom Tun-Ergehens-Zusammenhang war zwar von Jesus in Frage gestellt (Joh 9,2 f.) und ihm das gnadenhafte Handeln Gottes gegenüber gestellt worden. Aber die Verknüpfung von Sünde und Strafe hatte sich längst wieder Bahn gebrochen, und schon „das Frühmittelalter hielt am Bild des heilenden Arztes Christus nicht fest.“[101]

 

Das eigentlich Trost-lose daran war, daß man „keinen göttlichen Zweck in den Leiden“ erkennen konnte, „diese Geißel war zu grauenhaft“.[102] Es half auch nicht, Gott um Erbarmen anzurufen. Von den Bewohnern Ninives sagt die Heilige Schrift, als sie Buße taten: „Gott sah ihr Verhalten; er sah, daß sie umkehrten und sich von ihren bösen Taten abwandten. Da reute Gott das Unheil, das er ihnen angedroht hatte, und er führte die Drohung nicht aus.“ (Jona 3,10). Hier aber, in der großen Pest, hatte Gott das Unheil ohne Vorwarnung schon hereinbrechen lassen, und da half kein Bußgeschrei mehr.

 

Von William Langland, dem einflußreichen englischen Dichter (†1376), stammt das Wort: „Gott ist taub in dieser Zeit, er erhört uns nicht, und Gebete können die Gewalt der Pest nicht brechen.“[103] Man fühlt sich an die Prüfung und das Urteil selbst der frömmsten Juden erinnert, die in und nach der Shoah im Nationalsozialismus Gottes Handeln (oder Zulassen) tadelten und als unverständlich und ungerecht verurteilten.

 

Auch die Pest konnte nicht als gerechte Strafe erkannt werden, denn sie war wahllos über „Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,45) hereingebrochen. Das mittelalterliche Rechtsempfinden war – vergleichbar dem alttestamentlichen Denken – von der Grundeinstellung des „ius talionis“ bestimmt, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Vergehen und Strafe; und das galt bis in die Jenseitsvorstellungen hinein. In der Geißel der Pest konnten die Menschen aber keine „spiegelnde Strafe“ mehr erkennen. Das Strafmaß für begangene Sünden hatte die Balance maßlos überschritten.[104]

 

Die Pest als Strafe hatte auch keinen erzieherischen Wert[105], denn der unfaßbare Schrecken besserte die Menschen nicht, sie „ergaben sich einem schamloseren und unordentlicheren Leben als je zuvor.“[106] Historiker verweisen oft auf ähnliche Erfahrungen in Pest- und Kriegszeiten, so z. B. Thukydides bei der Pest von Athen 430 v.Chr. Auch der Verfasser der Apokalypse macht diese enttäuschende Erfahrung: „Gleichwohl lästerten sie den Namen Gottes, der Macht über diese Plagen hat. Sie gingen nicht in sich und gaben ihm nicht die Ehre.“ (Apk 16,9; ähnlich 16.21). Aber das Ergebnis kann auch einmal positiv ausfallen: „Die Überlebenden gerieten in Furcht und gaben Gott im Himmel die Ehre.“ (Apk 11.13).

 

Nach den verschiedenen Wellen der großen abendländischen Pest stellte sich keine Besserung des Verhaltens und der Verhältnisse ein: „Das soziale Verhalten wurde rücksichtsloser und gefühlloser wie oft nach Zeiten der Gewalt und des Leidens,“ resümiert B. Tuchman.[107]

 

3.1.1        Der „zürnende Gott“ in der Religionsgeschichte

 

Der „zürnende Gott“ ist religionsgeschichtlich keine Besonderheit und schon gar keine Erfindung der christlichen oder jüdischen Religion. Wo immer die Menschen an einen persönlichen Gott glaubten, der die Welt und die Menschen geschaffen hat und den Lauf des Alls bestimmt, da versuchten sie auch, ihr eigenes Schicksal auf den Zorn oder das Wohlwollen ihres Gottes zurückzuführen und seine Gunst durch Riten, Gebete, Opfer und ein rechtes Leben zu erlangen.

 

3.1.2        Der Zorn der antiken Götter und der Schicksalsglaube

 

Stärker allerdings als der Glaube an wirkmächtige Götter scheint in der Antike bei Griechen und Römern das Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem (blind)waltenden Schicksal gewesen zu sein, dem selbst die homerischen Götter unterworfen waren. Lukrez (†55 v.Chr.) formulierte diesen Gedanken so: „Auch die Gottheit vermag die Grenzen der Weltordnung nicht hinauszuschieben oder sich gegen die Gesetze der Natur aufzulehnen.“[108] Und der Arzt Galen (†199) kritisiert den Gottesglauben der Juden: „Ausschließlich an seinem Willen hängt die Schöpfung. Aber diese Auffassung ist unvereinbar mit der Kosmologie des Platon und Aristoteles.“[109]

 

Auch im germanischen Raum herrschte der Schicksalsgedanke vor, natürlich ohne eine den Griechen und Römern vergleichbare kosmologische Reflexion von Schöpfung und Weltgeschehen. Die Götter, so mächtig und vielfältig sie gedacht sein mochten, unterstanden dem als „unerbittlich erachteten Schicksal“.[110] „Es ist ein Etwas, das übermenschlich das menschliche Leben beherrscht.“[111]

 

Eine gegenläufige Tendenz zur Überzeugung vom unerbittlichen Schicksal zeigte sich in der ungebrochenen Verehrung und Anrufung der vielgestaltigen Götter- und Geisterwelt der Antike durch das einfache Volk und in der halb-elitären, stark erlebnisorientierten Feier der Mysterienkulte. Hier fand man Sicherheit und Trost, während die philosophischen Spekulationen über Gott das Herz kalt ließen.

 

3.1.3        Der Gott der Philosophen und der Gott Israels

 

Für unsere Überlegungen bedeutsamer ist das jüdische und christliche Verständnis von Gott und seinem Verhältnis zum Menschen. In Israel kannte man keine philosophischen Spekulationen über das Wesen Gottes und über die göttlichen Eigenschaften. Im Unterschied zur griechischen Philosophie, die Gott als das ewige Sein, unpersönlich, unveränderlich und absolut transzendent begriff[112], war der Gott Israels, Jahwe, der seinem Volk nahe Gott, der Begleiter, der eifernde und eifersüchtige Gott, der einen Bund mit den Menschen schließt, der sie belehrt oder im Zorn bestraft, vor allem der Gott, der nicht durch philosophische Spekulationen ergründet wird, sondern der sich selbst zum Menschen auf den Weg macht, sich ihm offenbart, sich ihm erfahrbar macht. Die griechischen Philosophen wollten durch Denken zu einer Gottesvorstellung gelangen, bei den Israeliten nahte sich Gott selbst den Menschen, und ihre Antwort auf diese Offenbarung Gottes war Glaube, Gehorsam.

 

Blaise Pascal hat diesen Unterschied nach seiner überwältigenden Gotteserfahrung, seinem mystischen Feuererlebnis in der Nacht des 23.11.1654, im „Mémorial“ auf die berühmte Formel gebracht: „Dieu d`Abraham, Dieu d`Isaak, Dieu de Jacob non des philosophes et des savants.“[113]

 

Ebenso scharf unterscheidet Romano Guardini[114] zwischen der spekulativen Annäherung an Gott und einer damit möglicherweise verbundenen „natürlichen“ Religiosität einerseits und der Verbindung Israels oder des Christentums mit Gott andererseits: „Bei aller Bedeutsamkeit gedanklicher und werthafter Gehalte, bei aller menschenbildenden und daseinsformenden Kraft bleiben sie doch in einer letzten Unverbindlichkeit.“[115] Dem steht jener Akt gegenüber, „welcher die alt- und neutestamentliche Haltung begründet: der Glaube,“[116] der „wesentlich Gehorsam gegen diesen Anruf“ ist[117] und die einzig legitime Antwort darstellt auf das, was „im Alten und Neuen Testament ‚Offenbarung' heißt.“[118] Diese ist kein menschlicher „religiös schöpferischer Akt eines seherisch Begabten“; Gott selbst „tritt aus der absoluten Souveränität seiner heiligen Freiheit auf den Menschen zu und redet ihn an.“[119] Darin sieht Guardini „das ‚scandalum‘ der Philosophen“, den „scheinbaren Anthropomorphismus“, das Unterscheidungskriterium der „Gottesvorstellung der Schrift“ : „die absolute Personalität, den Initiativ-Charakter, die Geschichtlichkeit Gottes.“[120]

 

Der Glaube ist somit nicht der strahlende Endpunkt menschlicher Überlegungen und philosophischer Einsichten, sondern ein Anfang, das gehorsame Ja auf den Anruf des sich offenbarenden Gottes.

 

Gottes Zuwendung zum Menschen geschieht in Formen, die der Mensch verstehen kann: „daß er sich entschließt, sich erhebt, kommt, spricht, handelt, ergrimmt, straft, versöhnt wird, bereut, vergibt“.[121] Für Israel verharrt Gott nicht in weltüberlegener Transzendenz, entscheidend ist sein „Hineintreten in die Welt und in das Leben des Menschen, sein -wie G. von Rad sagt- ‚penetranter Immanenzwille‘ “.[122]

 

Der heilige Paulus hat diese Nähe Gottes zum Menschen einmal so charakterisiert: „Keinem von uns ist er fern, denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ (Apg 17,27 f.).

 

3.1.4        Gottes Zorn und Gottes Liebe in Israel

 

Im Bewußtsein vieler Menschen liegt ein Schatten auf dem alttestamentlichen Verhältnis Gottes zu den Menschen. Die gewöhnlich im Zusammenhang mit der verletzten Bündnistreue Israels formulierten Androhungen oder Strafmaßnahmen Gottes erfolgen nicht selten in erschreckenden Bildern oder Worten. Erbarmungslos klingt es bei Jeremias (14,12): "Auch wenn sie fasten, höre ich nicht auf ihr Flehen; wenn sie Brandopfer und Speiseopfer darbringen, habe ich kein Gefallen an ihnen. Durch Schwert, Hunger und Pest mache ich ihnen ein Ende.“ Allein 15 mal (nach Computerzählung) findet sich eine solche Pestandrohung, meist in der tödlichen Kombination der drei Plagen, bei Jeremias, 11 mal bei Ezechiel und ähnlich in vielen Büchern des Alten Testaments.

 

Mußte der Zorn Gottes nicht wie eine feststehende Eigenschaft erscheinen, im Verbund mit seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit? Leicht mochte darüber in Vergessenheit geraten, daß Gott zürnt, weil der Mensch ihn erzürnt hat.

 

Die schärfsten Worte der Drohung und Verurteilung formulierten die Propheten, aber sie waren es auch, die Gottes Erbarmen am eindringlichsten zusicherten. Nirgendwo geschieht das bewegender als bei Hosea, dem einzigen Schriftpropheten aus dem Nordreich Israel (750 – 720 v.Chr.). Er war es, der die Gesinnung Gottes gegenüber den Menschen als erster mit dem Wort „Liebe“ benannt hat. Jahwes Liebe steht Israels Undankbarkeit und Untreue gegenüber: „Mit menschlichen Banden zog ich sie an mich, mit Seilen der Liebe. Ich war für sie wie jemand, der den Säugling an die Wange hebt; ich neigte mich ihnen zu und gab ihnen zu essen.“ (11,4). Aber Israel wendet sich gegen Gott. Statt jedoch sein störrisches Volk endgültig preiszugeben, wendet Gott sich lieber gegen sich selbst und zerreißt sein Herz:

 

 

Wie könnte ich dich preisgeben, Ephraim,

dich ausliefern, Israel? (...)

Mein Herz kehrt sich gegen mich um,

mein Mitleid ist gar sehr entbrannt.

Nicht vollstrecke ich meinen glühenden Zorn. (...)

Denn Gott bin ich und nicht Mensch,

in deiner Mitte ein Heiliger,

und nicht komme ich als Verderber. (8 und 9).

 

 

Heinrich Gross[123] sagt von diesem Gottesbekenntnis: „Von den Texten, in denen das Herz Gottes im hebräischen Alten Testament vorkommt, dürfte die vorgelegte Prophetenstelle der inhaltstiefste und daher kostbarste Text sein.“ Am Ende heißt es bei Gross: “So ergibt sich die bedenkenswerte Folgerung, daß menschliche Schuld und menschliches Versagen Gott zutiefst nicht zum Gericht, sondern zum höchsten Erweis seiner Liebe anstoßen.“[124]

 

3.1.5        Gottes Zorn und Gottes Liebe im Neuen Testament

 

Es ist ein häufig geäußerter Irrtum, daß der Strenge Gottes im Alten Testament seine Güte oder Liebe im Neuen Testament gegenübergestellt werden müsse. Zwar hat auch im Neuen Testament Gott „sein Herz zerrissen“ und sein Liebstes geopfert statt die Menschen in ihrer Schlechtigkeit zugrunde gehen zu lassen: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen einzigen Sohn dahingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern das ewige Leben habe.“ (Jh 3,16).

 

Aber das Wort vom Zorn Gottes, selbst vom Zorn des Lammes (Apk 6,16), findet sich in den Evangelien und, vor allem, in den Apostelbriefen und der Apokalypse,[125] besonders im Zusammenhang mit Gerichtsdrohungen. „Ein Gericht ohne Erbarmen ergeht über den, der kein Erbarmen geübt hat.“ (Jak 2,13). Der unbußfertige Sünder häuft sich „Zorn auf für den Tag des Zornes“, der als „Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes“ (Rom 2,5) beschrieben wird. Die Gläubigen dagegen dürfen Vertrauen haben zu „Jesus, der uns errettet vom kommenden Zorngericht.“ (1 Thess 1,10).

 

Diese Dichotomie durchzieht das ganze Evangelium. Gott beruft alle, aber die Wahl von Annahme oder Ablehnung des Heilsangebotes Gottes unterscheidet die „Kinder Gottes“ (z.B. Rom 8,16) oder „Kinder des Lichts“ (Jh 12,36) und die „Kinder des Zorns“ (Eph 2,3).

 

Den Beweis seiner grenzenlosen Liebe hat Gott in der Hingabe seines Sohnes erbracht. Gott „will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim 2,4). „So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn dahingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern das ewige Leben habe.“ (Jh 3,16; s.o.)[126]. Und Jesus hat nach dem Zeugnis des Evangelisten Johannes „die Seinen geliebt bis zur Vollendung (eis télos)“ (Jh 13,1), verwirklicht im Tod am Kreuz (tetélestai, Jh 19,30).

 

Trotzdem ist diese Frohbotschaft fast von Anfang an in der Kirche in einer merkwürdigen Brechung weitervermittelt worden. Dem „Öl der Freude“ (Hebr.1,9) wurde bald der „Glutwein Gottes“ beigemischt, der „unverdünnt in seinen Zorneskelch eingeschenkt ist“ (Apk 14,10), und die von Christus geschenkte Freude, die unsere „Freude vollkommen“ machen sollte (Jh 15,11), wurde allzu häufig abgelöst durch Anstrengung, Vorschriften, auch durch Unterdrückung und schließlich durch Angst.

 

3.1.6        Das weiterwirkende Bild vom zürnenden Gott

 

Die Angst war das vorherrschende „religiöse“ Gefühl der mittelalterlichen Christenheit. „Das Mittelalter hat unmittelbar und allezeit mit dem Zorn Gottes gerechnet.“[127] Er war letzter Erklärungsgrund für alle Katastrophen. „Wie mächtig das Deutungsschema vom Gotteszorn im Volk weiterwirkte, zeigte beispielsweise die Reaktion auf die Pest von 1347/52, die (...) als ungeheurer Schock empfunden wurde. Die allgemeine Deutung lief auf Zorn und Strafe Gottes hinaus.“[128]

 

Natürlich wußten gelehrte Theologen zu distinguieren, zu unterscheiden zwischen Erst- und Zweitursachen, zwischen anthropomorpher Redeform und gemeinter Wirklichkeit.[129] Die Wucht der leidvollen Erfahrungen veranlaßte die übrigen Menschen, auf ein einfaches Erklärungsmuster zurückzugreifen, das dem Wort des Propheten Isaias entsprach: „Ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil. Ich bin der Herr, der das alles vollbringt.“ (45,7).

 

Vom Zorn Gottes ist gegenwärtig in der kirchlichen Verkündigung kaum noch die Rede.[130] Der bedrohlich klingende Gesang des „Dies irae“ ist aus den Totenmessen verschwunden[131], und das oben zitierte „Strenger Richter aller Sünder...“ wird nur noch als Eigengut (Bistum Münster, Nr. 918) im „Gotteslob“ geduldet. Nostalgisch und durch die getragene Melodie lieblich verbrämt, darf in der Advents- und Weihnachtszeit von einem Kinderchor an das Ende von Gottes Zorn erinnert werden: „O Jesulein zart, o Jesulein mild, des Vaters Zorn hast du gestillt...“

 

„Zürnt Gott wirklich?“ fragt M. Limbeck in „Bibel heute“.[132] Im Hinblick auf die Aussagen des heiligen Paulus antwortet er: „Die Zukunft aller Menschen wird für Paulus keineswegs von Gottes väterlicher Güte, sondern von Gottes Zorn geprägt,“ allerdings mit der Einschränkung: “Gottes Gerechtigkeit zeigte sich für Paulus zunächst in Gottes Zorn, aber sie erschöpfte sich auch nach ihm nicht darin.“ Limbeck sieht einen Unterschied zum Gottesbild Jesu, „der in seiner Güte auch dem Sünder vorbehaltlos entgegenkommt.“ Und er fragt: „Welches Gottesbild – das von Jesus oder das des Paulus – wird Gott also eher gerecht?“

 

Diese Frage mit ihren unterschiedlichen Varianten wird ebenso unterschiedlich beantwortet werden. "Die Spannung in der Gottesrede“[133] muß bestehen bleiben, damit wir uns „kein Bild machen“ von Gott, das Gott und uns selbst bindet und auf ein Segment festlegt. Der „zürnende Gott“ könnte so ein Korrektiv bleiben zur heutigen eingleisigen, vielleicht auch verharmlosenden Rede vom „lieben Gott“.

 

3.1.7        Das spätmittelalterliche Gottesbild und die Ikonographie

 

Wie war die Reaktion der Künstler auf das vorherrschende Lebensgefühl der Menschen und ihr Verständnis von Gott? Vor allem in den Pestbildern haben die Maler des 14. und 15. Jahrhunderts dem verbreiteten Zeitempfinden ikonographischen Ausdruck verliehen. „Das Bild der tötenden Gottheit ist eine Neuschöpfung des Mittelalters, genauer: seine Verbreitung in der Ikonographie und Einbettung in neue Zusammenhänge (Pestbild, Heilstreppe)“, schreibt P.Dinzelbacher in seiner Abhandlung „Die tötende Gottheit“.[134] Zwar verdrängt der „Deus tremendus“ nicht die „Passionsfrömmigkeit und Christusminne“ dieser Zeit, aber „in der neuen Gestalt der unmittelbar tötenden Gottheit“ wird ein „latenter Aspekt im Gottesbild ‚reaktiviert‘, doch in einer neuen ikonographischen Formulierung.“[135]

 

Wir haben in den voraufgehenden Kapiteln das Pestbild in Schloß Bruck und weitere Abwandlungen dieses Typus kennen gelernt. Das Bild des grausam tötenden Gottes entstand aus den unerhörten Erfahrungen der Pestzeit und der immer neuen Pestwellen, die alle Hoffnung zunichte machten. Wir brauchen an dieser Stelle nicht noch einmal darauf einzugehen. Statt dessen bewegt uns die Suche nach anderen ikonographischen Antworten auf die Nöte der Zeit.

 

3.1.8        „Gnadenstuhl“ und „Streit der göttlichen Schwestern“ als Hoffnungsbilder

 

Das Wissen vom barmherzigen Gott ging trotz aller schlimmen Erfahrungen nicht verloren. Es fand seinen Ausdruck in sehr unterschiedlichen Ausprägungen. Einmal, in enger Anknüpfung an die Pestbilder, in der Idee von den „göttlichen Schwestern“, sodann in den andachtsvollen Bildern des „Gnadenstuhls“, wie man ihn z.B. in Niederlana (Schnatterpeckaltar) in Südtirol oder im Bild des Meisters von Meßkirch betrachten kann.[136]

 

Da das Bild des Gnadenstuhls unser Thema nur streift, mag hierzu ein kurzer Hinweis genügen: Gottvater trägt seinen toten, vom Kreuz abgenommenen Sohn mütterlich auf seinem Schoß (vergleichbar dem Bild der Pieta, dem Vesperbild)[137] und „zeigt sich den Betern überwältigt von seinem Schmerz“. „Er ist selbst ganz hineingezogen in das Todesgeschick seines Sohnes, von ihm zutiefst in ‚Mitleidenschaft‘ gezogen.“[138] (Abb. 10 und 11). Auf manchen Darstellungen unterstreicht der Heilige Geist den Eindruck der Compassio in Liebe, die den Betrachter hoffen läßt, selbst in Gottes Erbarmen hineingenommen zu werden.

 

  

Abbildung 10: Gnadenstuhl in St. Martin    , Cochem               Abbildung 11: Schmerzhafte Mutter, Telgte

 

Eine größere Nähe zu den Pestbildern oder gar eine eigene Spielart derselben zeigt die andere Ausprägung mittelalterlicher Ikonographie, die „litigatio sororum“, der „Streit der göttlichen Schwestern“. Dieses Thema geht zurück auf den „Theologendisput von zahlreichen Texten des Mittelalters an bis zur unmittelbaren Gegenwart“.[139] Diese „unmittelbare Gegenwart“ ist aber wohl einzugrenzen auf diesbezügliche religiöse Volksschauspiele in einigen früher habsburgischen Landen.

 

Es geht bei diesem „Streit der göttlichen Schwestern“ um einen „innergöttlichen Konflikt“, bei dem Gottes Barmherzigkeit und Gottes Gerechtigkeit miteinander im Streit liegen. Ausgehend von Ps 84 (85),11: Misericordia et veritas obviaverunt sibi, iustitia et pax osculatae sunt (Es begegnen einander Barmherzigkeit und Wahrheit, Gerechtigkeit und Friede haben sich geküßt.) intervenieren personifizierte Eigenschaften Gottes in Bilddarstellungen oder „im lebendigen geistlichen Volksschauspiel“.[140] Gott ist als der Dreifaltige dargestellt, wobei die einzelnen Personen die unterschiedlichen Eigenschaften als „göttliche Schwestern“ verkörpern und für ihre „Interessen“ streiten (litigatio): Gerechtigkeit, Wahrheit, Barmherzigkeit, Friede. Diese „Vierzahl der sorores“[141] wird z. B. in der Weise veranschau-

licht, daß gegenüber der Gerechtigkeit und Wahrheit Gottes die Barmherzigkeit und der Friede in der Person Jesu auftreten, unterstützt durch die Fürbitte der Gottesmutter, Johannes des Täufers als des Repräsentanten des Alten Bundes und anderer Heiliger.

 

Das theologische Problem von der Vereinbarkeit von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes wird also diskutiert und bildlich veranschaulicht. Die Auseinandersetzung, wo sie als solche dargestellt wird, endet in den Pestbildern stets mit dem Sieg der Barmherzigkeit: Gottvater als Vertreter der Gerechtigkeit läßt sich von der Interzession seines vielfach vereinten Gegenübers, meistens in der Form der Heilstreppe (Jesus, Maria, Heilige, bedrohte Menschen), besiegen. In den Pestbildern mit Spruchbändern lautet Gottes Entscheid etwa: „Viel lieber sun und maria reine meit kein mogelich bede ist uch verseit“ (Liebster Sohn und Maria, reine Jungfrau, keine mögliche Bitte ist euch versagt.): So zu lesen auf einem Gemälde von Hans Holbein d.Ä. und ähnlich auf allen Pestbildern, die mit Schriftbändern ausgestattet sind.

 

Dieser Kampf Gottes mit sich selbst, projiziert auf die litigatio sororum, erinnert an das herz-zerreißende Bekenntnis von der Liebe Gottes bei Hosea. Gottes Barmherzigkeit triumphiert am Ende über seine strafende Gerechtigkeit.

 

Beim „Landplagenbild“ in Graz, das wir als eine Variante des Pestbildtypus schon kennen gelernt haben, liegt eine merkwürdige Widersprüchlichkeit vor. Einmal ist es „Pestbild“ in aller Strenge: Pest, Hunger und Krieg sind als Gottesstrafen vollzogen und dargestellt; andererseits[142] findet die litigatio sororum, die doch mit dem Sieg der Barmherzigkeit enden muß, noch immer statt: lebhaft ausgedrückt in der Anwesenheit der drei göttlichen Personen und der Interzession Marias und der vielen anderen Heiligen. Hilfe und Verschonung werden für die Zukunft erfleht. Schon erfolgte Heimsuchung und Hoffen auf Gottes Erbarmen in der Zukunft werden ineins gesehen.

 

3.1.9        Das „tribunal misericordiae“ als Angstbewältigung vor Gott

 

Das Spannungsverhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, wie es uns in der Litigatio sororum entgegengetreten ist, wird in der Frömmigkeitsgeschichte noch an einem bekannteren und ab dem 14. Jahrhundert sehr verbreiteten Motiv abgehandelt: dem Gerichtshof der Barmherzigkeit, dem „Tribunal misericordiae“. Wir werden wiederum auf eine große Nähe zum Typus Pestbild stoßen. Es geht um Votivbilder, die zum Dank für erfahrene Hilfe und zugleich als Bitte um weiteren Beistand angefertigt wurden.

 

„Die Grenzziehung zwischen Votivbildern im allgemeinen Sinn und Pestbildern bleibt schwierig,“ heißt es in einem großen, sechsbändigen Marienlexikon.[143] Man kann diese Feststellung ergänzen durch den Hinweis, daß der Ausdruck „Pestbild“ keinen inhaltlich genau definierten Begriff darstellt. „Pestbild bezeichnet eine heterogene Gruppe religiöser Bilder, die entweder durch eine ausgeprägte Ikonographie (...) oder durch Inschriften, zugehörige Texte, Gebete oder Dokumente ihren Zusammenhang mit der Pest kundtun.“[144]

 

Wir haben in dieser Ausarbeitung, ausgehend von dem fast exemplarisch zu nennenden Pestbild in Schloß Bruck, als ein wichtiges und erschreckendes Merkmal den ergrimmten, Pfeile oder andere Projektile abschießenden Gott kennen gelernt; ihm gegenüber, in aufsteigendem „Instanzenzug“[145], die – oft mehrstufige – Heilstreppe, die Interzession durch Jesus, Maria und andere Heilige.

 

Abbildung 12: Tribunal misericordiae

 

Es gibt aber eine große Gruppe von vergleichbaren Bildern ohne direktes Pestmotiv, die das Merkmal wohl noch des zürnenden, nicht aber des tötenden Gottes kennen. Die Interzession hat so eindeutig zum Erfolg geführt, daß Gott die gerechte Strafe wegen der Fürbitte Jesu und seiner Mutter nicht vollzieht. Das Gericht mit diesem Ergebnis heißt seit Johannes Gerson (1363 – 1429) „tribunal misericordiae“. Dieser große französische Mystiker und Theologe („Doctor christianissimus“) und einflußreiche Kirchenpolitiker (Konzil von Konstanz!), Kanzler der Universität von Paris, dem wir noch an anderer Stelle dieser Arbeit begegnen werden, hat eine Schrift verfaßt, die den Titel trägt: Appellatio peccatoris ad divinam misericordiam,[146] in erweiterter deutscher Übersetzung: Von der gnaderichen Fürbitt vor got dem Vater für die armen sünder. Appellacion des sünders.Von der strengen gerechtigkeit gots zu der milten barmhertzigkayt.“[147]

 

In zahllosen Holzschnitten, geistlichen Schauspielen und Gebeten wurde fortan auf dieses Tribunal misericordiae Bezug genommen und die Idee weiterentfaltet. Ein "Flugblatt“[148] mag den Gedanken veranschaulichen helfen (Abbildung 12).

 

Gottvater thront als Richter mit ernster Miene und in erhabener Würde, in der Rechten das Schwert, in der Linken ein Rutenbündel als Hinweis auf das Leiden Jesu, das die Sünder verschuldet haben, dazu Pfeile, bereit, nicht nur Recht zu sprechen, sondern auch selbst das Urteil zu vollstrecken. Aber bevor es dazu kommt, interveniert Maria. „Gott als oberster Richter gewährt keinen Schutz“, heiß es lapidar bei V.Sussmann.[149] Aber da ist Maria, Advocata und Mater, „deren Barmherzigkeit auch dem sündigsten Menschen noch zur Rettung verhelfen kann.“[150] Nach dem Modus der Heilstreppe weist Maria auf ihre Brust und bittet ihren Sohn:

 

„Nate, per has mammas peccatorum miserere“ (Mein Sohn, um dieser Brüste willen erbarme dich der Sünder). Dabei zeigt sie als Gnadenanwältin mit ihrer Linken nach unten auf die – hier nicht sichtbaren – hilfeerflehenden Sünder. Jesus schaut seine Mutter liebevoll an und wendet sich dem Vater zu: „Vulnera cerne, pater, da quod genitrix mea poscit“ (Schau meine Wunden an, Vater, und gewähre, um was dich meine Mutter bittet).

Und während der Heilige Geist wie schützend oder segnend die Flügel ausbreitet, siegt das Erbarmen Gottes über die Gerechtigkeit: „Abnuere o tibi nate nihil matrique valemus“ (Wir können dir, lieber Sohn, und deiner Mutter nichts abschlagen).

 

Der Ausgang dieses Tribunals der Barmherzigkeit ist wiederum eindeutig: Gott läßt Gnade vor Recht ergehen. Wir kennen dieses Ergebnis bereits vom Epitaph des Domscholasters Rotger Dobbe in Münster - trotz der dort noch ausgesprochenen Drohung für den Sünder: „In drei Plagen muß er mir stehen“; ähnlich ist das Ergebnis beim „Heilsbronner Rechtfertigungsbild“ (Abb.6), auf dem Jesus „handgreiflich“ die gemeinsame Interzession mit seiner Mutter unterstreicht und die Vollstreckung des Urteils über die Sünder verhindert.[151]

 

Das Sündenbewußtsein der mittelalterlichen Menschen und die bedrohliche Nähe des plötzlichen Todes durch immer neue Pestwellen schürten die Angst vor dem Richtergott und den ewigen Höllenqualen, die auch den hartnäckigsten Sünder nicht gleichgültig ließen. Für alle blieb aber eine rettende Möglichkeit: das Tribunal der Barmherzigkeit, das einen guten Ausgang sicherte.

 

Wir werden an späterer Stelle der Frage nachgehen, aus welchen Quellen sich das unbedingte Vertrauen auf die Macht Marias speiste, welches die theologischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Hintergründe dafür sind, welche Formen die Interzession Marias in den Darstellungen des individuellen Sterbens, des Partikular- und des allgemeinen Weltgerichts annimmt und welche theologischen Probleme sich damit – aus heutiger Sicht – ergeben.

3.2         Die Schutzmantelmadonna

 

Wenn man den Aufbau des Pestbildes in Schloß Bruck und anderswo als dramatische Szene versteht, muß man die Schutzmantelmadonna als die Gegenspielerin des zürnenden Gottes bezeichnen. Seinem Vernichtungswillen setzt sie als Defensatrix einen sicheren Schutzwall und seiner Allmacht – meistens zusammen mit ihrem Sohn – als Mediatrix die alles überwindende Fürbitte entgegen. „Im Bild des Mantels, den Maria über von Angst und Not bedrängte Menschen breitet, fand das Vertrauen in die schützende Macht der Gottesmutter ihren stärksten Ausdruck.“[152]

 

3.2.1        Der angebliche Ursprung des Motivs

 

Woher stammt aber dieses Motiv des beschützenden Mantels in der mittelalterlichen Ikonographie? Wir haben uns so sehr an diese Darstellung gewöhnt, daß schon die Frage nach ihrer Herkunft Verwunderung erregen kann.

 

Der Pionier in der Erforschung des Schutzmantelmotivs ist der Franzose Paul Perdrizet, der 1908 in Paris sein Grundlagenwerk „La Vierge de Miséricorde“ vorlegte. Darin äußert er die Überzeugung, daß der Ursprung des Schutzmantelmotivs bei dem Zisterziensermönch Caesarius von Heisterbach (1180 – 1240) zu suchen sei, der im 7. Buch seines „Dialogus miraculorum“, „lequel est consacré en entier aux apparitions de Marie“,[153] folgende schöne Legende erzählt:

Ein frommer Zisterziensermönch kam – in einer Vision – in den Himmel, wo er in der himmlischen Heerschar auch Mönche verschiedener Orden erblickte, aber zu seiner Verwunderung keine Zisterzienser. Er fragte die Gottesmutter, warum gerade ihre treuesten Verehrer von der ewigen Seligkeit ausgeschlossen seien. Ihre Antwort lautete: Die Mitglieder des Zisterzienserordens sind mir so lieb und vertraut, daß ich sie gar unter meinen Armen hege. Sie öffnete ihren wunderbar weiten Mantel und zeigte ihm eine unzählbare Menge seiner Ordensangehörigen. Er frohlockte, bedankte sich und erzählte dann dem Abt von seiner Vision. Beim nächsten Kapitel bekamen alle Äbte diese frohe Botschaft zu hören, und so wurde die Liebe zur Gottesmutter noch einmal gesteigert.[154]

 

Diese Geschichte ließ natürlich die anderen Orden nicht ruhen. Sie entwickelte sich schnell zur Wanderlegende, und bald beanspruchte jeder Orden das „Urheberrecht“ für diese Vision.[155] Sie förderte das Ansehen und regte zu noch größerer Marienverehrung an. Die Dominikaner wurden wegen ihrer Begeisterung für Maria vom Volk „wenigstens hie und da ‚Mariens Brüder‘“ genannt.[156]

 

L.Kretzenbacher urteilt sehr streng, wenn er zur Visionslegende des Caesarius anmerkt: „Es ist sicher, daß dies eine „Propaganda“-Legende für den Cisterzienserorden ist.“[157] Er fragt kritisch an, wovor denn im Himmel die Gottesmutter mit ihrem Mantel die seligen Ordensmitglieder zu schützen habe. Diese Überlegung hat Martin Luther wohl dazu geführt, die Schutzmantelgeschichte, mit Bezug auf Franziskus, andersherum zu erzählen. In einer seiner Predigten zur Auslegung des Matthäusevangeliums[158] fand ich folgenden Text: „S.Francisci Bruder haben auch eine grosse Lugen von der Jungfrau Maria geprediget, das Franziscus hette einen traum gehabt, wie ehr in Himel kam, und Maria decket ihren Mantel auff, aber er fandt seiner bruder keinen drunder. Do ehr nun sehr erschrak und wuste nicht, was dieses bedeutet, do saget Maria zu ihm: Deine Bruder sind in vollkomenern Stande, dan die andern, drumb gehoren sie nicht unter diesen mantel.“

 

3.2.2        Kritik und Neuansätze

 

Kretzenbacher vermutet eine umgekehrte Reihenfolge im Nacheinander von Vision und Entstehung des Schutzmantelbildes, daß nämlich ein vorher gesehenes Schutzmantelbild zu dieser Vision inspiriert habe. Als die Dominikaner auf ein gleiches Visionserlebnis ihres Ordensgründers hinwiesen, „schloß sich bereits im 13. Jahrhundert ein langer Prioritätenstreit“[159] an. Dieser weitete sich, wie angedeutet, nach entsprechenden Visionen anderer Ordensgründer(innen) bis ins 16. Jahrhundert hinein aus – für Kretzenbacher ein Zeichen verständlicher „Ordensrivalität“.[160]

 

Der von Perdrizet mit Entschiedenheit vorgetragene Erklärungsansatz für das Motiv der Schutzmantelmadonna hielt weiteren Forschungen nicht stand. Besondere Verdienste hat sich dabei Vera Sussmann erworben, die in ihrer Dissertation „Maria mit dem Schutzmantel“ selbst erstaunt anmerkt: „Den Mantel als Symbol des Schutzes zu gebrauchen, erscheint so natürlich, daß man sich die Frage stellt, warum es nicht von altersher Schutzmanteldarstellungen in der Kunst gibt.“[161]

 

Während solche Darstellungen tatsächlich sehr selten waren und erst die Pestzeiten zu „Höhepunkten“ der „Produktion von Schutzmantelbildern“ wurden[162], sind der literarische Vorsprung und die vielfältige und unterschiedlichste Verwendung des Mantelmotivs im Laufe der Geschichte sehr viel früher anzusetzen.

 

3.2.3        Das Mantelmotiv im Alten Testament

 

„Dem Mantelmotiv zugrunde liegt zunächst der Schutzgedanke,“[163] und zwar vorab in dem allgemein verständlichen Sinne als Schutz vor natürlichen, aber meist unangenehmen äußeren Witterungseinflüssen wie Kälte, Wind... Im übertragenen Sinn weitet sich die Schutzbedeutung auf alles Gefährdende aus, gegen das sich der Mensch abschirmen möchte. Zugleich verbreitet er das Gefühl von Geborgenheit und Wärme. Aus letzterem Grunde mußte in Israel sogar der gepfändete Mantel dem Besitzer am Abend für die Nacht zurückgegeben werden,[164] „denn es ist seine einzige Decke, der Mantel, mit dem er seinen bloßen Leib bedeckt. Worin soll er sonst schlafen?“ Der Mantel ist „das Bett des einfachen Mannes.“[165]

 

Neben dieser Schutzfunktion[166] hatte der Mantel im Alten Testament vielerlei Bedeutungen. Saul erkennt beim Besuch der Totenbeschwörerin in En-Dor den toten Samuel an dem Mantel, in den er gehüllt war (1 Sam 28,14). Der Mantel als Erkennungszeichen oder Berufskleidung des Propheten wird bei Elias so beschrieben: „Er trug einen Mantel aus Ziegenhaaren und hatte einen ledernen Gurt um die Hüften.“ (2 Kg 1,8). Bei Johannes d.T., der nach Jesu Wort „mehr ist als ein (gewöhnlicher) Prophet“ (Mt 11,9), taucht dieser Mantel wieder auf: „Johannes trug ein Gewand aus Kamelhaar und einen ledernen Gürtel um seine Hüften.“ (Mt 3,4). Jesus bestätigt die prophetische Kontinuität von Elias und Johannes: „Ja, er ist Elias, der wiederkommen soll.“ (Mt 11,14).

 

Elias bestimmt Elischa zu seinem Nachfolger und wirft seinen Prophetenmantel zum Zeichen seiner Berufung über ihn: „Er stand auf, folgte Elias und trat in seinen Dienst.“ (1Kg 19,21). Der „härene Mantel“ als Gewand des Propheten wird auch bei Sacharia erwähnt, wo die falschen Propheten entlarvt werden: „Um sich zu verleugnen, wird er seinen härenen Mantel nicht anziehen.“ (Sach 13,4)[167].

 

Es würde zu weit führen, wollte man die Bedeutungsnuancierungen des Mantels vom Zerreißen (z.B. Esra 9,3) bis zur liturgischen Funktion (1 Chr 15,27) im einzelnen vorstellen. Die allegorische Bedeutung dürfte klar geworden sein, die diesem Kleidungsstück offensichtlich von Anfang an anhaftete und die in der Folgezeit noch weiter entfaltet wurde.

 

3.2.4        Das Mantelmotiv im Neuen Testament

 

Im Neuen Testament verbinden wir mit dem Begriff des Mantels vor allem die Erinnerung an die Verspottung Jesu: „Sie legten ihm einen scharlachroten Mantel um (...) und verspotteten ihn.“ (Mt 27,29). Das Zeichen von königlicher Hoheit und Würde wird höhnisch mißbraucht: „Heil dir, König der Juden!“ (a.a.O.).

 

Auf einigen Pestbildern des Spätmittelalters wird dieses Mißverhältnis ikonographisch wieder zurechtgerückt: Der Schmerzensmann trägt nicht mehr das Spottgewand, sondern einen kostbaren gold-roten Mantel, ein reichbesticktes Pluviale, das ihn als König und Hohenpriester auszeichnet, wie es das Pestbild in Münster sehen läßt.[168]

 

Alle weiteren Hinweise auf den Mantel (z.B. Mt 5,40; Mk 10,50; Hebr 1,12) sind für unseren Zusammenhang ohne Belang.

 

3.2.5        Das Mantelmotiv in der heidnischen Antike

 

In der heidnischen Antike finden sich vereinzelte bildliche Verwendungen des Mantelmotivs: Auf Münzprägungen des 2. Jahrhunderts schützt Jupiter den römischen Kaiser mit einem Mantel; und religiös noch akzentuierter: Es gab „Venus-Protectrix-Terrakotten“, bei denen dieses Schutzmotiv seinen Ausdruck fand.[169]

 

In Parallele zum alttestamentlichen Prophetenmantel gab es auch für die antike Philosophenzunft eine Berufskleidung: den Philosophenmantel. Polemisch äußert sich Minucius Felix um die Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert zu der lasterhaften Lebensführung der griechischen Philosophen, denen er die rechte Gesinnung der Christen gegenüberstellt: „Wir, die wir die Weisheit nicht im Philosophenmantel tragen, sondern in unserer Gesinnung zeigen...“[170] Aber nicht der Mantel selbst erregte Abscheu, denn auch Justin († um 165) als „christlicher Wanderlehrer im Philosophenmantel“ trug dieses Gewand. Daß auch Soldaten sich mit einem Mantel bekleideten, ist aus dem Legendenschatz um St. Martin allbekannt.[171]

 

 

3.2.6. Der Schutzmantel der Madonna in der orthodoxen Christenheit

 

Die ältesten Hinweise auf einen Schutzmantel der Madonna führen uns in die orthodoxe Christenheit, vor allem nach Jerusalem und Konstantinopel, wobei sich anfangs Legenden und Zeugnisse unentwirrbar verbinden. Das am weitesten zurückliegende Ereignis, das mit der Kleidung Marias zu tun hat, wird, in großer zeitlicher Distanz, von Jacobus de Voragine überliefert:[172] Im Zusammenhang mit der Himmelfahrt Marias heißt es: „Also öffneten sie das Grab, fanden den Leib aber nicht darin, sondern nur ihre Kleider und Tücher.“

 

Dann werden verschiedene hochrangige Kirchenmänner genannt, die bezeugen, daß zur Zeit der „Kaiserin Pulcheria heiligen Angedenkens“ (399 – 453) diese Kleider von Jerusalem nach Konstantinopel gelangt seien. In der berühmten Blachernenkirche (am Kaiserpalast im Norden der Stadt), die von der Kaiserin gestiftet wurde, bewahrte man das Pallion oder Maphorion[173] in der Hagia Soros genannten Rotunde auf.

 

Dieses Gewand Marias genoß nicht nur höchste Ehrungen, sondern erwies sich als wundertätige Reliquie für Hilfesuchende und wirksame Schutzmacht für die Verteidigung der Stadt. So brachen die Russen am 18. Juni 860 ihre erfolgreiche Belagerung plötzlich ab. Das verzweifelte Volk hatte „die Mutter des Logos angefleht um ‚mütterliche Interzession‘ bei Gott und um ‚ihren Schutz als unbezwingbare Mauer‘(...). Man hatte in einer Bittprozession ihren Mantel um die Mauern der Stadt getragen“, dieser habe „die Mauern umfangen“, ja „die Stadt habe sich darin eingehüllt“. All das überliefert die Predigt (die berühmte IV. Homilie) des Patriarchen Photius, in der er zum Schluß alle Geretteten auffordert, „zusammen mit Maria Gott zu danken“.[174]

 

Von all den vielen Wunderberichten, die mit dem Kleid Marias in der Blachernenkirche verbunden wurden, sei nur auf die Legende vom Judenknaben hingewiesen, die schon im Mittelalter auch im Westen weitverbreitet war; dieser Junge wurde durch Maria vor seinem wütenden Vater aus dem Feuer gerettet, wie schon der hl. Gregor von Tours (538 – 594) berichtet.[175] Wichtig für unseren Zusammenhang ist, daß hier erstmals im Abendland der „Mantel Mariens als schutzgebend erwähnt wird.“[176]

 

Auf zwei Wegen gelangten Formen der Marienfrömmigkeit, die mit dem Mantelschutz verbunden waren, im Hochmittelalter von Konstantinopel in den Westen. Einmal über die immer stärker werdenden Handelsverbindungen der italienischen Städte mit den Gebieten des orthodoxen Einflußbereichs, nachdem dort „der Glaube an die Madonna, die durch ihren Mantel Schutz gewährt, schon im 8. Jahrhundert, sicher aber im 9. und 10. Jahrhundert in Konstantinopel voll ausgeprägt war und von dort mit steigender Intensität ins Abendland ausstrahlte.“[177]

 

Dabei gilt zu beachten, daß hier vom Glauben an den Mantelschutz gesprochen wird, nicht vom Bild der Schutzmantelmadonna, wie es uns heute vor Augen steht. Auch scheint das Maphorion Marias nicht das Aussehen eines Mantels nach abendländischem Zuschnitt gehabt, sondern eher einem verlängerten Kopfschleier, einer Art Überwurftuch geähnelt zu haben. Auf altrömischen oder ostkirchlichen Abbildungen von Frauen sind solche Kleidungsstücke zu sehen (Abb. 14). Bilder der Immerwährenden Hilfe zeigen ebenfalls diesen Schleier, der über die Schultern hinweg weit nach unten fällt (Abb. 13).

 

                                       

Abbildung 13: Immerwährende Hilfe                                            Abbildung 14: Münzbild aus Konstantinopel

 

Gestützt wird meine Vermutung über das Aussehen des Maphorions durch einen Hinweis im Marienlexikon von Bäumer/Scheffczyk[178], wonach bei russischen Rezeptionen[179] die Madonna „über die versammelte Gemeinde ihren Kopfschleier ausbreitet.“ Mal tragen Engel den ausgespannten „Mantel“, mal ist er „ihr über die fürbittend erhobenen Arme gelegt.“

Übrigens wird auf dem „Landplagenbild“ von Graz der Schleier Marias in ähnlicher Weise quer über das Bild hin schützend über die Menschheit gezogen, wie oben schon einmal geschildert, auf der einen Seite von Maria, auf der anderen von Johannes d.T. gehalten. Kretzenbacher, der dieses Bild eingehend deutet, merkt dazu an, daß darin der „Nachklang einer sehr bezeichnenden byzantinischen Legende zu finden“ sei.[180] In Konstantinopel hatte Maria bekanntlich ebenfalls mit ihrem Schleier die Menschen und die Stadt beschützt und gerettet.

Der zweite Weg, über den ostkirchliche Marienverehrung in den Westen gelangte, ist weit weniger rühmlich. Er hängt mit der Eroberung und Plünderung Konstantinopels anläßlich des vierten Kreuzzuges im Jahre 1204 zusammen. Statt das Heilige Land zu befreien, wozu sie aufgebrochen waren,[181] fielen die beutegierigen Krieger über die Hauptstadt der orthodoxen Schwesterkirche her und zementierten auf diese Weise die Spaltung der Christenheit in Ost und West auf Jahrhunderte hin, ja bis in unsere Zeit.[182]

 

Damals gelangte „eine Flut von Reliquien nach Europa, darunter viele angebliche Fragmente vom Gewand der Gottesmutter.“[183] Diese „Fragmente“ dürften in Wahrheit nicht vom Maphorion Marias stammen, da es aller Wahrscheinlichkeit nach der Verschleppung entging. Das Gewand Marias wurde nämlich „bis zum Brand der Blachernenkirche am 29. Februar 1434 dort uneingeschränkt weiterverehrt.“[184] Die „Fragmente“ wurden an vielen Stellen verehrt und mit wundertätigen Auswirkungen in Verbindung gebracht. Noch anspruchsvoller dachte man in Chartres; die Kirche Notre Dame rühmte sich, „Zentrum der Marienverehrung im Abendland“ zu sein.[185] Schon seit dem 11. Jahrhundert verehrte man dort „das ganze Gewand Mariens“, das von Karl dem Großen, der es als Geschenk von Konstantinopel erhalten habe, über Aachen nach Chartres gekommen sein soll.[186]

 

Wenn etwas Wahres an der Geschichte ist, kann es sich bei dem Gewand in Chartres bestenfalls um eine Berührungsreliquie handeln. Kein byzantinischer Kaiser hätte das Gewand Marias in den Westen verschenkt. – Ein „Kleid Marias“ befindet sich übrigens auch unter den „Heiltümern“ der karolingischen Kaiserpfalz in Aachen.

 

Um das Gewand in Chartres und die Verehrung Marias herum entwickelten sich zahlreiche Legenden, die denen vom Blachernenheiligtum ähneln, so daß die fromme Konkurrenz deutlich erkennbar wird.

 

Die Entwicklung hin zum Schutzmantelbild, wie es sich gegen Ende des Mittelalters darstellt und uns heute so selbstverständlich erscheint, bekam einen weit zurückreichenden, aber immer stärkeren Anschub durch bestimmte Gebete zur Gottesmutter. Als ältestes Mariengebet gilt die Marienantiphon, deren griechischen Text Karl der Große ins Lateinische übersetzen ließ: „Sub tuum praesidium confugimus“ (Unter deinen Schutz und Schirm fliehen wir...). In Ost und West gleichermaßen geschätzt, gehört dieses Gebet noch heute zu den beliebtesten Anrufungen der Gottesmutter.

 

Bei Ephräm dem Syrer (†373) fand ich einen möglichen Hinweis zur Entstehungsgeschichte dieses Gebets, das im Westen und Osten in unterschiedlichen Versionen in Gebrauch war und angesichts der Pluralform der Beter wohl auch liturgische Verwendung fand. Der Kirchenvater benutzt in seinem „Sermo de SS. Dei Genitricis Virginis Mariae laudibus“[187] Wendungen, die fast wörtlich in die Formulierungen der Gebete eingegangen zu sein scheinen: „Sub tuum praesidium confugimus, o sancta Dei genitrix; sub alis pietatis atque misericordiae tuae protege et custodi nos..“ – In den Hymnen, Gebeten und Predigten Ephräms findet sich eine endlose Zahl von Ehrentiteln, Lobpreisungen und Anrufungen Marias, wie sie so kaum wieder an anderer Stelle anzutreffen sein dürften.

 

V.Sussmann sagt von dem Gebet „Sub tuum praesidium“: „So nah wie dieses Gebet kommt kein anderes Mariengebet an den Sinn der Schutzmantelbilder heran,“[188] wenngleich die bildende Kunst „dieses Motiv (...) erst später aufnahm.“[189] In Wallfahrts- und Prozessionsgesängen kehrt dagegen das Mantelmotiv „auffällig oft“[190] wieder.

 

Nach V. Sussmann hat das fast ebenso beliebte „Salve regina (mater) misericordiae...“ mit seinen wiederholten Anrufungen nichts mit der Entstehung der Schutzmantelbilder zu tun,“[191]

obwohl es sich gleichzeitig mit ihnen ausbreitete. Diese Ansicht verwundert auch deswegen, weil in den weit bekannten Offenbarungen der heiligen Brigitta[192] ein Zusammenhang zwischen diesem Gebet und dem Mantel ausdrücklich hergestellt wird: „Mein Mantel ist meine Barmherzigkeit. (...) Von allen werde ich angerufen (im Salve Regina) als Mutter der Barmherzigkeit. (...) Komm du also, meine Tochter, und verbirg dich unter meinem Mantel.“

 

Auch schon in den zahllosen Legenden des Hochmittelalters wird eine Verbindung hergestellt zwischen dem Motiv des Schutzmantels und dem verbreiteten Gebet „Sub tuum praesidium“.

Der Benediktiner Gautier de Coincy (1177 – 1236) sammelte die ringsum erzählten Legenden und übertrug sie in altfranzösische Verse[193] und hat darin „die allgemeine Schutzkraft des Mantels Marias schon vor 1220 als Erster im Westen hymnisch gepriesen“.[194]

Durch die Verknüpfung der beiden Aspekte, Schutzmantel und Schutzgebet, wurde die Akzeptanz der späteren ikonographischen Darstellungen gefördert, die dann „wie Illustrationen des Gebets“[195] wirkten.

 

3.2.6        Der Mantelschutz als juristisches Brauchtum im Mittelalter

 

Bevor im 13. Jahrhundert die Schutzmantelidee die Hürde von ihrer weit vorangeschrittenen literarischen Verbreitung hin zur bildlichen Ausgestaltung nahm, gewann dieser Vorgang zusätzliche Schubkraft auf einem ganz anderen Gebiet mittelalterlichen Lebens, dem der Rechtsbräuche.

 

Im Bewußtsein der Menschen war der Mantel (besonders der Frau) auch ein juristisches Symbol.[196] Jacob und Wilhelm Grimm[197] weisen in ihrem Deutschen Wörterbuch auf die vielfältige Bedeutung dieses Kleidungsstückes hin. So diente es der Legitimierung eines vorehelich geborenen Kindes bei der Trauung der Mutter (= Mantelkind), wobei sie es unter den Mantel nahm. Der Mantel einer vornehmen, adligen Dame galt auch als Asyl und Zufluchtsort für Verfolgte.

 

Am ausführlichsten und grundlegend hat K.Schué dieses Thema des Schutzes behandelt.[198] Viele Elemente, die wir aus den Schutzmantelbildern kennen, finden sich hier bereits deutlich vor: das Gnadenbitten oder die Fürsprache, die Bedeckung mit dem Mantel als Mantelschutzrecht, das Berühren des Busens oder der Hand einer Jungfrau, einer Schwangeren oder einer hochgestellten Dame usw.

 

3.2.7        Der Mantelschutz Marias

 

Annahme als Kind und Schutz vor Verfolgung, diese Hauptaspekte drängten geradezu nach künstlerischer Darstellung, als man die Idee des Mantelschutzes mit den vielen Legenden und Gebeten von Marias Fürbitte und Hilfe in Verbindung brachte. Niemand kann sagen, wann und wo genau das erste Bild der Schutzmantelmadonna entstand. Silvy ist zuzustimmen, daß das Motiv damals „in der Luft lag“.[199] Daran kann nach allem kein Zweifel bestehen. Einmal ins Bild umgesetzt, entfaltete sich das Schutzmantelmotiv in einer Vielfalt, wie sie kein anderes Votiv- und Andachtsbild in der Verehrung der Gottesmutter je erreicht hat. Perdrizet ging 1908 noch davon aus, den Bestand der Bilder mit etwa 230 Nennungen einigermaßen erfaßt zu haben, Vera Sussmann kam, wie wir oben gesehen haben, 1929 aber auf eine wesentlich höhere Zahl von Bildern (etwa 350), die aus dem Mittelalter überliefert worden und erhalten geblieben sind. Ihre Neuentdeckungen beziehen sich hauptsächlich auf den deutschsprachigen Raum. Die genaue Zahl kennt wohl niemand.

 

Gemäß der Sinndeutung des Mantelbildes verbanden Maler und fromme Verehrer damit Assoziationen wie Zuflucht, Wärme, Schutz, Erbarmen, Hilfe, Sicherheit. Wie bei der Beschreibung der Pestbilder gesehen, richtete sich das Gefühl von Zuflucht und Sicherheit nicht allgemein gegen die Unbilden des Lebens, mit denen es die Menschen im Mittelalter vielleicht noch mehr zu tun hatten als wir heute, sondern sogar gegen Gott selbst, vor dessen Zorn und Strafe man zur himmlischen Mutter flüchtete. Das geschah nicht aus naiver, unaufgeklärter Religiosität heraus, sondern entsprach einer Mentalität, die, wie wir es an späterer Stelle noch sehen werden, von angesehenen Theologen mitverursacht war.

 

In Notzeiten unterschieden die Menschen allerdings wenig, ob Gott selbst oder andere, unmittelbare Ursachen das Leid über sie brachten. Letztlich ließ sich alles auf Gott zurückführen, ohne den einem auch nicht ein Haar gekrümmt werden konnte.[200] Und deshalb war jedem klar, „daß Maria vor niemandem sonst als dem höchsten Richter schützt.“[201] Christa Mulack akzentuiert aus betont feministischer Sicht: Während Gott „Angst und Schrecken“ verbreitete, gelang es Maria, in ihrer Person „den Glauben an göttliche Liebe und Barmherzigkeit aufrechtzuerhalten.“[202]

 

3.2.8        Die Schutzmantelmadonna als Mater misericordiae

 

Maria gebührte als einziger Trägerin eines Schutzmantels der Titel „Mater misericordiae“. Dieser Titel war ursprünglich jedoch nicht an das Schutzmantelbild gebunden, sondern konnte für jede andere Darstellung der Gottesmutter verwendet werden. Brockhaus berichtet von drei verschiedenen Darstellungen der „Madonna della misericordia“, die einer Bruderschaft in Florenz gehörten, von denen nur eine eine Schutzmantelmadonna war, und er fährt fort: „Es bestand volle Freiheit, die Madonna della misericordia nach Gutbefinden darzustellen, jedes Madonnenbild war dazu geeignet, denn zum Begriff Christi und seiner Mutter gehört die Barmherzigkeit.“[203]

 

Während Maria in Italien als Mater oder Madonna della misericordia und in Frankreich als Vierge de miséricorde verehrt wird, fehlt bei der deutschen Benennung im allgemeinen der verheißungsvolle Titel der Barmherzigkeit.[204] Der Name „Schutzmantelmadonna“ kommt jedoch der romanischen Bezeichnung inhaltlich sehr nahe. Der Mantel ist das Äquivalent für Barmherzigkeit: „Mein breiter Mantel ist meine Barmherzigkeit“, heißt es, entsprechend der zitierten Vision Brigittas von Schweden, unter einem Bild der Rosenkranzmadonna.[205]

 

3.2.9        Der Schutzmantel bei anderen Personen

 

Maria war nicht die einzige, die mit einem Schutzmantel bekleidet dargestellt wurde; zum Beispiel auch die heilige Ursula, Sterbepatronin[206] und „Patronin der Erzieher, im Besonderen der Sorbonne (weil sie so viele Seelen dem Himmel zuführte)“.[207] Zum Kreis um St. Ursula zählte – mit einem Schutzmantel – auch die hl. Odilia (nur namensgleich mit der elsässischen Heiligen). Ab dem 14. Jahrhundert ist der Schutzmantel grundsätzlich bei allen Heiligen möglich, zum Beispiel auch bei Ordensgründern und Stadtpatronen.

 

Auch Christus wird gelegentlich mit einem Schutzmantel dargestellt, manchmal als Schmerzensmann zusammen mit Maria, wie im Dom zu Münster, oder thronend als ewige Weisheit oder als Beschützer seiner Verehrer, die den Namen IHS anrufen. (Abb.15).

 

Die Inschrift über Jesu Haupt (geschmückt mit einer Kaiserkrone) lautet: In meinem götlichen schirm will ich sy haben, die meinen Namen IHU in irer begird wellen tragen.

 

Auch auf ältesten Pestbildern erscheint Jesus im Schutzmantel. Besonders beeindruckend ist in meinen Augen die Darstellung in dem durch seine Wandbilder berühmten und durch sein Alter ehrwürdigen Kirchlein St. Prokulus in Naturns (Südtirol).[208] (Abb. 16).

 

Abbildung 15: Christus als ewige Weisheit

Abbildung 16: Christus und Maria mit Schutzmantel,  St. Prokulus, Naturns

 

Trotz der fortgeschrittenen Verwitterung aller Gemälde dort ist auf dem Pestbild (um 1400) deutlich die parallelisierende Darstellung der gemeinsamen Interzession von Jesus und Maria zu erkennen. Beide tragen einen Mantel und beschützen die hilfesuchenden Menschen, die sich von Gottes Pfeilen bedroht fühlen. Einige Pfeile prallen gar auf den Schützen zurück, wie solches gelegentlich von Heiligen und deren Peinigern berichtet wird. Während Jesus auf anderen (besonders Gerichts-)Bildern manchmal selbst zu Waffen greift und die Menschen bedroht, nimmt er sie hier, genau wie seine Mutter, unter den schützenden Mantel.

 

Als eine Art „reformatorisches Gegenbild zur spätmittelalterlichen Schutzmantelmaria“[209] zeichnete Lukas Cranach d.J. im Sinne Martin Luthers einen „Schutzmantelchristus“. Dieser „Bildtypus, der das Motiv des Schutzmantels von Maria auf Christus überträgt und solchermaßen ‚reformiert’, blieb ein einzelner Versuch“[210].

 

Luther lehnte das Bild (und die Idee) der Schutzmantelmadonna entschieden ab, und er nannte es „Abgotterei, daß man weiset die Leute von Christo unter den Mantel Mariae, wie die Predigermönche getan haben...“[211] „Mein breytter mantel ist meine barmhertzigkeit“ heißt es auf einem Rosenkranzbild der Dominikaner.[212] Diese Gleichsetzung von Maria und Barmherzigkeit, wie sie uns oben auch schon in der Vision der hl. Brigitta begegnet ist und wie sie unter der Anrufung „Mutter der Barmherzigkeit“ allgegenwärtig war, wollte Luther nicht, weil er fürchtete, daß dadurch die Bedeutung Jesu im Erlösungswerk zurücktreten mußte.

 

Auch Gottvater selbst trägt auf einigen Bildern den Schutzmantel, den er über Adam und Eva, über die Apostel oder über seinen gekreuzigten Sohn hält. Ein andermal greift er an den Mantel Marias und deutet mit dieser Geste an, daß sie die Menschen darunter bergen soll.[213]

 

Selbst allegorische Figuren wie die „Weisheit“ breiten ihren schützenden Mantel aus, wobei die „Weisheit“ auch mit Christus oder Maria identisch sein kann. Ebenso tritt die Mutter Kirche mit einem Mantel auf, um ihre Kinder liebevoll zu umhüllen.

 

Eine ganz unerwartete Darstellung befindet sich in der Armenseelenkapelle von Perugine in Südtirol aus dem Jahre 1650.[214] Der Tod, angetan mit Krone und Schutzmantel, birgt schützend eine Gruppe von Frauen und Männern.

 

Zu meiner Verwunderung gibt es keine Illustrierung des schönen Jesuswortes, in dem er seine Sorge um die Rettung der Menschen mit der Henne vergleicht, die ihre Küchlein unter ihren Flügeln sammelt (Mt 23,37), ein Bild, das im Alten Testament, besonders in den Psalmen, vielfach vorbereitet ist. „Im Schatten deiner Flügel finde ich Zuflucht, bis das Unheil vorübergeht“, heißt es zum Beispiel in Psalm 57,2 (56,2).

 

Ist eine ikonographische Ausdeutung dieses Bildvergleichs zu problematisch? Ist der Schritt hin zum Lächerlichen bei diesem Motiv vielleicht zu schwer einzuschätzen, wenn es um Christus oder Maria als Henne ginge?

 

In der Literatur begegnet man gelegentlich Anspielungen auf das Jesuswort. So schreibt Christa Mulack in ihrem Buch über Maria: „Sie ist es, die ihre Küken zum Schutz unter ihre Flügel sammelt.“[215] Auch die Predigten zu den Gerichtsreden am Ende des Kirchenjahres werden dieses anschauliche Bild vermutlich nicht ausgelassen haben. Von Martin Luther ist bekannt, daß er „die Bildvorstellung von Christus als einer Gluckhenne, unter deren Flügel sich die verängstigten Küchlein ducken dürfen“, liebte.[216] Aus den Predigten zu Mt 18 – 24 aus den Jahren 1537-1540 stammt der Satz: „Aber also solstu zu Got kommen, als ein kuchlein unter die flugel der gluckhennen, durch den glauben.“[217]

 

Einen besonders schönen Bezug zum Jesuswort von der Henne fand ich in der zweiten der vier berühmten Homilien „Missus est Angelus“,[218] in der St.Bernhard den Schutz Jesu preist: „Köstlich und begehrenswert ist der Schatten unter Jesu Flügeln, wo die Fliehenden sichere Zuflucht, die Müden angenehme Erquickung finden. Erbarme dich meiner, Herr Jesus, erbarme dich meiner! ‚denn auf dich vertraut meine Seele und unter dem Schatten deiner Flügel will ich hoffen, bis die Bosheit vorübergeht‘.“ (Ps 56,2). – Die Henne selbst bleibt aber auch beim heiligen Bernhard unerwähnt.

 

Ob es anderweitige literarische Ausmalungen dieses Bildvergleichs gibt, ist mir nicht bekannt.

 

3.2.10    Moderne Versionen des Schutzmantelbildes

 

Zu merk-würdigen Darstellungen (im doppelten Wortsinn) der Schutzmantelidee ist es auch im letzten Jahrhundert gekommen.[219]

 

Gemeint ist zunächst – im positiven Sinne – die als „Stalingradmadonna“ bekannt gewordene Kohlezeichnung des Arztes und Pfarrers Kurt Reuber (Abb. 17), die er im Kessel von Stalingrad 1942 angefertigt hat und die noch kurz vor dem Ende der Schlacht ihren Weg nach Deutschland gefunden hat.[220]

 

Abbildung 17: Stalingradmadonna[221]

 

Man kann dieses Bild nur mit größtem Respekt betrachten, wenn man noch dazu die Umstände bedenkt, unter denen es entstanden ist. Obwohl Maria ganz in ihre Aufgabe versunken ist, fühlt sich jeder Betrachter in dem umhüllten Kind mitbeschützt. „Von allen Seiten hast du mich umschlossen und hältst deine Hand über mir,“ zitiert Theo Schmidkonz Psalm 139,5 in einer Beschreibung des Bildes.[222] Und bei Arno Pötsch heißt es in „Die Madonna von Stalingrad“:

 

„Was sehe ich? Jetzt breitet sie die Arme aus!

Jetzt spricht sie: Kommt alle, ich bring euch nach Haus,

ich will euch, die Mutter, versorgen!“[223]

 

Marias Schutzmantel ist der Bausch ihres Gewandes.

 

Eher befremdlich wirkt dagegen das Schutzmantelbild auf einer vatikanischen Briefmarke[224] vom Heiligen Jahr 1983/84, das den Papst auf einer Weltkugel als Schutzherrn der Menschen darstellt. (Abb. 18).

 

Abbildung 18: Der Papst mit dem Schutzmantel

 

Es fällt nicht leicht, in dieser ambitionierten Darstellung überzeugende Parallelen zur Mutter oder Jungfrau der Barmherzigkeit zu erkennen. Die theologischen und philatelistischen Experten haben mit dieser Briefmarke kein Meisterwerk geschaffen.

 

3.2.11    Stilistische Gestaltung des Schutzmantelmotivs

 

Es soll genügen, zu diesem Aspekt auf einige wenige Besonderheiten hinzuweisen, da die in dieser Arbeit vorgestellten Bilder für sich sprechen und alle das eine entscheidende Merkmal gemeinsam haben: den schützenden Mantel. (Abb. 19 und 20).

 

Dieser richtet sich in seiner Weite danach, ob die Menschengruppe mehr übereinander gestaffelt steht, was bei Familien oder sonstigen kleinen Gemeinschaften oft der Fall ist, oder Maria als Mater omnium dargestellt wird und ihren Mantel mit ihren Armen oder mit Hilfe von Engeln weit auseinander breitet, das Bild also mehr waagerecht auslädt. Wichtiges Kompositionsprinzip ist also die Berücksichtigung der Zahl der Schutzsuchenden.

 

 

 

Abbildung 19: Maria schützt eine kleine Gemeinschaft          Abbildung 20: Maria als Mater omnium

 

Bei plastischen Darstellungen (Skulpturen, Statuen) finden wir meistens eine schmalere Ausführung, bei der die Menschen unter dem Mantel übereinander angeordnet sind, während bei Gemälden das breitere Nebeneinander der Adoranten einfacher zu realisieren ist. Auf fast allen Bildern ist Maria frontal dargestellt, während die Bittenden in unterschiedlicher Weise um sie herum gruppiert sein können.

 

Schutzmantelbilder können sich auch dadurch unterscheiden, ob Maria das Jesuskind auf dem Arm hält oder mit beiden Armen den Mantel über die Menschen breitet. Der erste Typus erweckt stärker den Eindruck des Erbarmens und der Zuwendung, zumal dort, wo auch das Kind in diesen Gestus miteinbezogen ist. Der Mantelschutz ohne das Kind auf Marias Arm hat es dagegen oft mit dem zürnenden Gott als Opponenten zu tun, vor dem es die Menschen zu schützen gilt, wie die meisten Pestbilder bezeugen.

 

Das Problem der Größenverhältnisse wird in der Regel dadurch gelöst, daß die Bittsteller wesentlich kleiner als Maria dargestellt werden, manchmal noch dazu in perspektivischer Verjüngung der hinteren Reihen. Dies ergibt sich aus praktischer Notwendigkeit (damit viele Platz finden) oder aus dem hieratischen Prinzip, nach dem das Heilige oder Hochstehende eine größere Würde besitzt. Das versucht der Künstler durch die disproportionalen Größenverhältnisse auszudrücken.[225]


 

3.2.12    Die Rosenkranzmadonna

 

Abbildung 21: Rosenkranzmadonna St. Andreas, Köln

Erwähnung verdienen die unter dem Einfluß der Dominikaner entstandenen Schutzmantelbilder der Rosenkranzbruderschaften, die den Schutz Mariens mit der Propagierung des Rosenkranzgebets verbinden.

 

Ein besonders schönes Beispiel für diesen Bildtypus befindet sich in der Dominikanerkirche St. Andreas in Köln. (Abb. 21). Es ist gemalt um 1510 - 1550 vom Meister von St.Severin, entstanden auf Anregung des Kaisers „als Dank für die Errettung der Stadt aus einer bedrohlichen Belagerung“.[226]

 

Abbildung 22: Rosenkranzmadonna, Bruderschaftsbild

 

Auf diesen Bildern braucht Maria die Menschen nicht mehr vor den Pestpfeilen Gottvaters zu beschützen. Nicht selten wird Maria von den drei göttlichen Personen gekrönt und kann dabei sorglos ihre Schützlinge und Verehrer in mütterlicher Liebe umhüllen.

Der Rosenkranz mit den fünf Wundmalen zwischen den je zehn Rosen der Gesätze (Abb. 22)[227] umschließt auf dem Holzschnitt Himmel und Erde, wie es auch in dem Gebet unter dem Bild zum Ausdruck kommt. Dort heißt es: „Mein breiter Mantel ist meine Barmherzigkeit, die ich keinem Menschen, die seiner (oder ihrer) seligkeit begehrt, versagen will.“ Und nach der Aufforderung, zu Maria zu „schreien und (zu) sprechen“, folgt das Gebet: „Unter deine Beschützung fliehen wir, o heilige Gottesgebärerin. Unser Bitten in Nöten nicht verschmähe, sondern von aller Gefahr erlöse uns alle jetzt, o gebenedeite Jungfrau.“

3.2.13    Die Schreinmadonna

 

Zu den umstrittensten Bildern der Schutzmantelmadonna gehört die vollplastische Darstellung Marias als Schreinmadonna oder Vierge ouvrante, wie sie in Frankreich, dem Ursprungsland dieses Typus, genannt wird. Ab 1200 verbreitet sie sich in unterschiedlichsten Varianten über ganz Europa hin. Im Deutschordensland führte eine künstlerische Umgestaltung zu Anerkennung und Nachahmung, allerdings war damit auch „die Entwicklung des Schreinmadonnentypus im eigentlichen Sinne abgeschlossen.“[228]

 

Gudrun Radler hat sich in einer Monographie am intensivsten mit der Beschreibung und Deutung der Schreinmadonna beschäftigt. Sie stellt drei Gruppen vor, die sich in ihrer theologischen Aussage voneinander unterscheiden lassen. Allen drei gemeinsam ist zunächst, daß sich die hölzernen Vollplastiken an ihrer Schauseite aufklappen lassen, so daß die seitlichen Flügel wie ein Schutzmantel wirken, in dessen Innenseite sich, gestaffelt nach oben hin, die betenden Menschen drängen. In der Mitte des Körpers der Maria befanden sich häufig Reliquien, davor eine Darstellung des „Gnadenstuhls“, so daß Mariens Leib als die Schatzkammer oder gar als die Wohnstätte der Trinität mißverstanden werden konnte.

 

Abbildung 23: Schreinmadonna

Das Innere der Figur konnte auch mit Szenen der Passion Jesu oder des Marienlebens bemalt sein und so die zwei weiteren Varianten der Darstellung bilden.

 

 Insbesondere die Kombination der beiden verbreiteten Andachtsbilder „Gnadenstuhl“ und „Schutzmantelmadonna“ zu einer Figur war es, die sich auf der einen Seite großer Beliebtheit erfreute, andererseits aber auf Skepsis und theologischen Widerspruch stieß. Der schon erwähnte französische Theologe Johannes Gerson, der als „Kirchenvater des 15. Jahrhunderts“ [229] gerühmt wird, warnte in einer Weihnachtspredigt vor einer derartigen Darstellung bei den Karmelitern in Paris. „Man muß sich, so gut es nur eben geht, davor hüten, die Geschichte der Heiligen Schrift bildlich falsch darzustellen. Dies sage ich teilweise wegen eines Bildes, das sich bei den Karmelitern befindet, und auch anderer, ähnlicher Bilder wegen, die in ihrem Bauch eine Darstellung der Dreifaltigkeit zeigen oder auch Szenen davon, wie die ganze Trinität Fleischesgestalt in der Jungfrau angenommen hat. Und was noch wunderbarer ist: es gibt im Innern von Schreinfiguren gemalte Höllendarstellungen, und ich sehe nicht, zu welchem Zweck man solche Arbeiten ausführt; denn meiner Ansicht nach wohnt diesen Bildern weder Schönheit noch Frömmigkeit inne; und dies muß zwangsläufig Irrtümer und Verachtung oder Unfrömmigkeit hervorrufen.“[230]

 

Natürlich war auch diese ikonographische Idee der Verbindung von Marias Leib und der Dreifaltigkeit nicht vom Himmel gefallen. Auch hier war die „literarische Vorbereitung für die bildhafte Umsetzung“[231] Bedingung. G.Radler weist auf Andeutungen bei Albert d. Gr. und auf Kommentierungen zum „Dominus tecum“ hin, die auf eine „inhabitatio trinitatis“ in Maria abzielen. Richard von St. Laurent (13. Jahrhundert), der sich auch sonst in seinem zwölfbändigen Werk „De laudibus BMV“ gern überschwänglich ausdrückt, nennt Marias Herz „triclinium totius trinitatis“ (Speisezimmer, Refektorium der ganzen Trinität).[232]

 

Die Kritik Gersons drückt aus, was in der Kirche auch andernorts an Befürchtungen vorhanden war. Christa Mulack behauptet, daß „die Skulpturen der Vierge ouvrante als häretisch empfunden und aus dem Verkehr gezogen wurden.“[233] Dem widerspricht allerdings Gudrun Radler, die sich, wie gesagt, am intensivsten mit diesem Thema befaßt hat: „Ein ausdrückliches Bildverbot ist für die Schreinmadonna nie ausgesprochen worden.“[234] Allerdings kommt das Breve von Papst Benedikt XIV. aus dem Jahre 1745[235] einer Verurteilung in der Sache meines Erachtens sehr nahe; der Papst bezieht sich darin auf die ablehnende Haltung Gersons und Molanus‘[236] und scheint ihrer Meinung zu sein. In diesem Breve wurden auch Trinitätsdarstellungen abgelehnt, in denen drei Männer als göttliche Personen abgebildet sind. (Vgl. Abb. 24).[237]

 

Abbildung 24: Krönung Marias durch die Dreifaltigkeit

Sowohl diese als auch die Schreinmadonnen erscheinen uns heute eher kunsthistorisch interessant als anstößig für unseren Glauben, und sie stellen darum wohl kaum noch ein kirchliches Problem dar. Und was die Frage der Schicklichkeit und des künstlerischen Geschmacks angeht, von denen Gerson in seiner Kritik spricht, so gilt auch hier: De gustibus non est disputandum!

 

Je tiefer man in den Geist der spätmittelalterlichen Kunst und Frömmigkeit einzudringen versucht, um so größer wird das Erstaunen über den Einfallsreichtum und die Unbefangenheit, womit die in ihrer religiösen Geschlossenheit noch unangefochtene Christenheit ihre Liebe zur Gottesmutter zum Ausdruck gebracht hat.

3.2.14    Die bedrohten und schutzsuchenden Menschen

 

Ein weiterer integrativer Bestandteil der Pestbilder sind die Menschen(gruppen), die sich unter den Mantel Mariens flüchten. In den voraufgehenden Kapiteln wurden sie zwangsläufig schon kurz erwähnt; sie waren es ja, um derentwillen die Pestbilder überhaupt gemalt wurden.

Es handelt sich bei diesen nicht in erster Linie um Andachtsbilder, die zur frommen Betrachtung einladen, sondern um – teilweise dramatische – Darstellungen eigener grausamer Erfahrungen. Viele dieser Bilder (Pestkreuze und Pestsäulen) sind zwar als Votivbilder zu verstehen, als eingelöste Versprechen und dankbare Zeichen der Rettung aus größter Not. Zugleich aber und vor allem machen sie auf ein Doppeltes aufmerksam: auf die Angst aller Menschen jener Jahrhunderte vor der verheerenden Macht der Pest und zugleich auf das uneingeschränkte Vertrauen, das der Gottesmutter mit der Flucht unter ihren rettenden Mantel entgegengebracht wurde. Und dies trotz der allgegenwärtigen Todeserfahrungen besonders in Zeiten der Pest.

 

Pestbilder mit dem schützenden Mantel Mariens sind allerdings keine Widerspiegelungen der erfahrenen Realität, sie sind christliche Hoffnungsbilder. „Man macht Maria gleichsam vor, wie sie an den Menschen handeln soll.“[238]

 

In dem sehr alten und naiv-keck gezeichneten Pestbildchen im Speculum humanae salvationis[239] hat sich eine kaum identifizierbare Gruppe von Menschen unter den Mantel geflüchtet, während Maria selbst dem pfeilschießenden Gott ihren Leib couragiert als Zielscheibe entgegenstreckt.

 

Mit zunehmender künstlerischer Ausgestaltung des Motivs wurden auch die schutzsuchenden Menschen differenzierter dargestellt. Zwar bleibt Maria weiterhin Mater omnium, aber die mittelalterliche Feudal- und Ständeordnung wirkt sich zunehmend auf die Gruppierung und Anordnung der Personen unter Marias Mantel aus. Der geistliche Stand, vertreten durch Papst, Kardinal, Bischof und Orden, wird zur Rechten Marias plaziert, zu ihrer Linken die weltlichen Größen: Kaiser, König, Fürst, Stifter, und, wenn der Platz noch reicht, eine Gruppe von – meist gesichtslosen – Laien. Ines Dresel meint zu Letzterem: „Die einfachen Leute, die damals nichts galten, sind nicht vertreten.“[240]

 

In der Renaissance entstanden zugleich mit dem wachsenden Selbstbewußtsein der Menschen auch Bilder, auf denen nur einzelne Familien, Orden oder Bruderschaften unter Marias Mantel dargestellt wurden oder auch nur Einzelpersonen, wie auf dem Epitaph zu Münster (wenngleich hier die Ummantelung fehlt). Sogar Porträts sind auszumachen und als solche den Stiftern oder anderen bekannten Personen zuzuordnen.[241] Trotzdem blieb auch jetzt das Motiv der Mater omnium auf vielen Bildern erhalten. Gleichzeitig wurden Merkmale der Pestbilder auf andere Darstellungen übertragen, deren Thematik für die Christen aller Jahrhunderte von mindestens ebenso großer Bedeutung war: auf die Bilder vom partikularen und vom allgemeinen Gericht. Konnte Maria auch hier noch ihre Aufgabe als Mutter und Fürsprecherin wahrnehmen, wenn mit dem Tod des Menschen die Zeit und die Möglichkeit verdienstvollen Handelns abgelaufen war? Davon soll an späterer Stelle die Rede sein.

 

3.3       Die Interzession Marias durch Brustweisung und Fürbitte

 

Wir werden uns diesem Thema schrittweise nähern.

3.3.1        Brustweisung als uraltes Klage- und Bittmotiv

 

Menschliche Verhaltensweisen und Gebärden sind nicht überzeitliche Konstanten, die sich aus der Natur oder dem Geschlecht des Menschen wie von selbst ergeben, selbst wenn sie vielleicht Jahrtausende überdauern. Sie haben möglicherweise einen anlagebedingten biologischen Hintergrund, sind aber immer kulturell überformt, wenn nicht gar allein durch Brauch und Sitte zu erklären. Das dürfte jedenfalls auf einen Teil der Gesten und Gebärden zutreffen, deren ursprünglicher Erlebniszusammenhang, für den sie Ausdruck sein konnten, verlorengegangen ist und die späteren Generationen deshalb befremdlich erscheinen können.

 

Dies trifft auch für die Gebärde der Brustweisung zu. Früheren Zeiten war sie unmittelbar verständlich, uns muß sie durch kulturhistorische Aufarbeitung neu gedeutet werden. Wo der Bereich des Religiösen tangiert wird, wie in den Pestbildern, sind auch die Theologie und die Frömmigkeitsgeschichte gefragt.

 

Ein kulturhistorischer Rückblick verweist zuerst auf den Zusammenhang der Brustweisung mit der Totenklage, dann auf Notsituationen, in denen diese Gebärde Zeichen einer gefahrvollen Situation und ihrer magischen, apotropäischen Bewältigung war.

 

Bei Homer (um 800 v.Chr.) dient sie der Unterstützung einer verzweifelten Bitte: Als Hektor, Königssohn im belagerten Troja, sich nicht vom Zweikampf mit Achill von seinem Vater Priamus zurückhalten läßt, macht die Mutter einen letzten Versuch, sie beschwört ihn durch Wort und Gebärde:

 

Die Mutter aber wieder jammerte drüben, Tränen vergießend,

Öffnete ihren Bausch und hielt mit der anderen Hand die Brust hoch

Und sprach zu ihm, Tränen vergießend, die geflügelten Worte:

„Hektor, mein Kind! Scheue diese! und erbarme dich auch meiner,

Wenn ich dir einst die kummerstillende Brust gereicht habe!“[242]

 

Vom Vater Priamus heißt es: Er „raufte die grauen Haare mit den Händen, und riß sie sich vom Kopf“[243], während Hekuba den Sohn an ihren Anspruch als seine Mutter erinnert. Die Geste des Vaters ist uns heute noch sprichwörtlich geläufig, die Gebärde der Mutter dagegen bedarf schon der Erklärung.

 

Das Zeigen und Schlagen auf die Brüste ist auch im alttestamentlichen Raum Israels eine bildhafte Gebärde für Trauer und Buße. Jesaia fordert die leichtfertigen Frauen auf, das Trauergewand anzuziehen, und dann: „Schlagt euch an die Brust und trauert...“ (da alles ringsum dem Untergang geweiht ist). (Jesaia 32,11 ff.).[244]

 

Im altgermanischen Bereich ist die Gebärde der Brustweisung ebenso bekannt. Tacitus schreibt in der „Germania“, daß die Frauen bisweilen die schon wankenden Schlachtreihen wiederherstellten, indem sie durch inständige Bitten, durch Entgegenhalten ihrer Brüste (obiectu pectorum) und den Hinweis auf ihre drohende Gefangenschaft die Männer zu erneutem Kampfe anstachelten.[245] Ihr Gestus verstärkte die vorgetragene Bitte und machte sie zu einer Beschwörung. - Caesar schreibt über den Sturm auf die Stadt Gergovia: „Die Familienmütter warfen Kleidung und Silber von der Mauer herab und beschworen, mit nackter Brust sich vorbeugend, mit ausgebreiteten Armen die Römer, sie zu verschonen und nicht, wie sie es in Avaricum getan hätten, sich nicht einmal von den Frauen und Kindern fernzuhalten.“[246]

 

Ein später Nachklang solcher kriegerischen Ermunterung und Ermutigung, wie Tacitus sie berichtet, dürfte das bekannte große Gemälde von Eugène Delacroix sein: „Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden.“ (Abb. 25).

 

Das Bild wird gern für die französische Revolution von 1789 reklamiert, ist aber erst unter dem Eindruck der Julirevolution von 1830 entstanden. Es zeigt eine junge Frau auf den Barrikaden in Heldenpose, Allegorie für die „Freiheit“. Die Brüste entblößt, barfuß, in der nach oben gereckten Rechten die Trikolore, in der Linken ein Gewehr - so feuert sie die Männer ringsum zum Freiheitskampf an.[247]

 

  

Abbildung 25: Eugène Delacroix: Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden.

Abbildung 26: Rubens: Allegorie des Friedens (Ausschnitt)

 

Ein Bild, das statt des Kampfes den Frieden verherrlicht, beherrschte optisch die Ausstellung zur 350. Jahrfeier des Westfälischen Friedens von 1648 im Westfälischen Landesmuseum Münster. Das großformatige Gemälde von Peter Paul Rubens (1577 -–1640) zeigt als allegorische Figur und in barocker Üppigkeit eine Frau mit nacktem Oberkörper, PAX, die aus ihrer linken Brust Milch in den geöffneten Mund eines kleinen Knaben spritzt. (Abb. 26).

 

Von Kampf und Frieden wieder zurück zu dem Motiv der Klage, das mit der Entblößung der Brüste verbunden sein konnte. Eine Miniatur im Stuttgarter Bibelpsalter[248] zeigt Männer und Frauen, die sich um eine aufgebahrte Tote drängen, um sie zu betrauern. Die Totenklage der Frauen wird unterstrichen durch die entblößten Brüste und die aufgelösten Haare. Vielleicht handelt es sich um die älteste bekannte ikonographische Darstellung dieses Motivs überhaupt.[249]

 

Für unser Thema bedeutsam ist die Frage, wie es dazu kam, die Gebärde der Brustweisung zunächst literarisch und dann auch ikonographisch auf die Darstellung der Gottesmutter zu übertragen.

 

3.3.2        Die Gebärde der Brustweisung bei Maria

 

Der entscheidende Anknüpfungspunkt für die Anwendung dieses Motivs der Brustweisung auf die Gottesmutter war die Seligpreisung der „Frau aus dem Volke“: „Selig der Leib, der dich getragen, und die Brüste, die du gesogen hast.“ (So wörtlich in Lk 11,27).

 

Hieran und an die Anspielungen des Hohenliedes schließen sich die vielen allegorischen und auch sehr realistischen Ausdrucksweisen in der mittelalterlichen Literatur und Kunst an, wie aufzuzeigen sein wird.

 

3.3.3        Der älteste literarische Nachweis bei Arnold von Chartres

 

Auf der Suche nach einem möglichen Ursprung, einer ersten Quelle des Motivs der Brustweisung Marias stieß ich im Laufe meiner Recherchen auf verschiedene Namen: Abbas Bonaevallis, Arnaud de Bonneval, Arnoldus Carnotensis, (bei Migne:) Ernaldi Abbatis (libellus) und Arnold von Chartres. Die Ähnlichkeit der Vornamen ließ mich (der Leser hat es bei dieser Auflistung schon längst geahnt) auf ein und dieselbe Person schließen. Und als ich die letzte Hürde, die äußere Ungleichheit von Chartres und Carnotensis, genommen hatte, mit der Entdeckung nämlich der französischen und lateinischen Bezeichnung für wiederum ein und dieselbe Stadt, konnte die Sichtung und Ausschöpfung der Quelle beginnen.

 

Arnold von Chartres, nach 1138 Abt von Bonneval, dem Zisterzienserkloster in der Diözese Chartres, ist es also, in dessen Schrift „De laudibus B. Mariae Virginis“[250] die berühmten und für die Frömmigkeitsentwicklung so folgenreichen Zeilen stehen.

 

Arnold war ein Freund Bernhards (1090 – 1153), und dieser Umstand führte wohl dazu, daß im gesamten Mittelalter dieser Heilige als Autor des besagten Libellus galt. Noch Martin Luther, der übrigens den hl. Bernhard sehr schätzte, hielt ihn für den Urheber der (noch folgenden) berühmten Zeilen.[251]

 

Zu dieser Verwechslung ist zu sagen, daß Bernhard in seiner Predigt zum Fest Mariä Geburt[252] zweimal den Gedanken der Heilstreppe deutlich ausspricht. In der zweiten, knappen Formulierung heißt es: Exaudiet utique Matrem Filius, et exaudiet Filium Pater. Diese Bewegung unserer Bitten zu Maria und weiter zu Jesus und schließlich zum Vater hin bezeichnet er als peccatorum scala; von Brustweisung ist allerdings nicht die Rede.

 

Bernhards Ansehen war Jahrhunderte hindurch so unangefochten, daß später sein Ordensbruder Eberhard Friedrich mit Recht schreiben konnte: „Bernhard beschließt als ‚ultimus inter Patres, primis certe non impar‘ (Mabillon) die Reihe der Kirchenväter.“[253]

(Sehen wir hier einmal davon ab, daß dem berühmten Johannes Gerson gut 250 Jahre nach Bernhard der gleiche Titel zugesprochen wurde!)

 

Die Stelle bei Arnold lautet:

 

Securum accessum jam habet homo ad Deum,

ubi mediatorem causae suae Filium habet

ante Patrem, et ante Filium matrem. Christus,

nudato latere, Patri ostendit latus et vulnera;

Maria Christo pectus et ubera.

 

 (Einen sicheren Zugang hat nunmehr der Mensch zu Gott,

wo er als Mittler seiner Angelegenheit den Sohn hat

vor dem Vater, und vor dem Sohn die Mutter. Christus

zeigt, die Seite entblößt, dem Vater die Seite und die Wundmale;

Maria Christus den Busen, ja die Brüste.)

 

Der Verfasser ist des weiteren überzeugt, daß der Mensch keinesfalls abgewiesen werden kann, wo diese Zeichen der Milde und der Caritas zusammenwirken und beredter als jede Zunge für ihn beten.

 

Vielleicht waren diese Sätze des gelehrten Abtes zu seiner Zeit nicht so überraschend. „Als Arnoldus von Chartres das Motiv in seinen Traktat aufnahm, gehörte es noch zu dem Fundus menschlicher Gesten und Verhaltensweisen, die über Jahrtausende ihre Bedeutung behalten.“[254] Jedenfalls hat der Abt mit seinen Worten ein Ventil geöffnet, das in kurzer Zeit eine Fülle ähnlicher Formulierungen folgen ließ, die dann zum selbstverständlichen Interpretament der Rolle Marias im Heilswerk gehörten.

 

3.3.4        Aufnahme und Ausbreitung des Motivs Arnolds

 

War bei Arnold sozusagen nur ein heilsgeschichtlicher Sachverhalt festgestellt worden, gingen seine Nachahmer einen bedeutenden Schritt weiter. Sie aktualisierten die theologisch gemeinte Feststellung und setzten vor allem Maria in Szene. Dabei verhalfen die von Bernhard und seinem Orden ausgehenden Impulse zu einer immer stärker anwachsenden Marienfrömmigkeit. Auch die anderen neugegründeten Orden der Prämonstratenser und des Robert von Abrissel standen darin nicht zurück. Marias Rolle als fast alltägliche Helferin und Fürsprecherin wurde in der Volksfrömmigkeit zu einer nicht mehr hinterfragten Voraussetzung. Aber auch die theologische Gewichtung dieser Rolle nahm stetig zu, selbst wenn die biblischen Grundlagen dafür eher indirekt erschlossen werden mußten, da die Schrift, außer vielleicht bezüglich Marias Worte bei der Hochzeit zu Kana (Jh 2,3+5), dazu direkt nichts sagt.

 

Für die um ihr ewiges Heil besorgten Menschen bedeutete die intensive Fürsprache Marias vor Christus und Gottvater einen ungeheuren Gewinn an Aussicht auf Heil. Zahllose Legenden gingen nicht nur von Mund zu Mund, sondern wurden auch von Land zu Land schriftlich weitergetragen. Sie erzählten die tröstlichsten Geschichten von der Hilfe der Gottesmutter.[255] Es gab keine noch so hoffnungslosen Fälle, in denen Maria nicht Abhilfe geschaffen hätte, gleich ob es nun um das ewige Heil oder um irdische Anliegen ging.

 

Zu den legendären Wundern gehört auch die schöne Geschichte vom Dieb, der wegen seiner Missetaten gehenkt wurde. Weil er aber ein Marienverehrer war, eilte die Gottesmutter hinzu und hob seinen Körper an, so daß der Strick sich nicht zuziehen konnte. Nach drei Tagen hing der Dieb immer noch fröhlich am Galgen. Da erkannte man das Wunder, ließ ihn laufen, und er wurde ein frommer Mensch. – Eine ansprechend-naive Darstellung dieser Legende entdeckte ich im Sommer 1999 unter einer Reihe anderer Bilder ähnlicher Art in der Lady Chapel der Kathedrale von Winchester in Südengland; Bilder dieser Größe und Fülle (10 oder 12 an beiden Seiten des Chores) sind mir sonst nirgendwo bekannt.

 

Maria konnte auch eben erst in Sünde Verstorbene wieder ins Leben zurückrufen, um ihnen eine letzte Chance zur Buße zu geben; sie half sündigen Nonnen und Mönchen, wenn sie schon fast in den Klauen der Teufel waren; sie tat sogar, was die Kirche strikt verboten hatte: Sie half einem Ritter zum Turniersieg, als der sich auf dem Weg zum Kampfplatz verspätete. Er hatte zu lange gesäumt, als er unterwegs an einer Messe zu Ehren der Gottesmutter teilnahm.[256]

 

Vor allem aber half Maria beim göttlichen Gericht, wo ihre Interzession zwischen Tod und Individualgericht oder auch zwischen Auferstehung und Weltgericht „im allerletzten Augenblick“ das Schicksal noch zum Guten wenden konnte.[257] Die theologische Problematik dieser Erwartungen ist offensichtlich.

 

Die einzige Bedingung für all diese Hilfen Marias ist das Vertrauen in ihre mütterliche Aufgabe als Mater misericordiae und die Verehrung der Gottesmutter. Hat man es daran nicht fehlen lassen, darf man allem, auch dem göttlichen Gericht, zuversichtlich entgegensehen.

 

Da überrascht es nicht, daß sogar der Teufel auftritt und sich bei Gott über Maria beklagt, da er seinen Anteil an den (verdammten) Menschen gefährdet sieht: „Durch ein ‚Gott grüß Euch‘ kann man ihre Macht und ihren Schutz erlangen...,“[258] jammert er.

 

In Dichtwerken und religiösen Schauspielen wird der Gedanke der Fürbitte Marias, verbunden mit der Brustweisung, in immer neuen Wendungen vorgetragen: „Ich manen dich der brüste mien / Das du dem sünder wellest milte sin,“ heißt es im Berner Weltgerichtsspiel.[259] Ähnlich lautet es im Luzerner Osterspiel[260] und anderswo. Der Gedanke der Fürbitte Marias, unterstützt durch ihre Brustweisung, ist ein Hoffnungszeichen für eine Christenheit geworden, deren religiöses Empfinden sonst vor allem von Sündenbewußtsein und der Angst vor der ewigen Strafe bestimmt war.

 

Als Arnold von Chartres sein neues Motiv formulierte, war die Fürsprache Marias längst Allgemeingut der Christenheit, von der Mittlerschaft Christi ganz zu schweigen. Der Neuigkeitscharakter liegt in der Brustweisung und in der parallelen und gleichzeitig aufsteigenden Intervention Jesu und seiner Mutter, wofür sich später der Begriff „Heilstreppe“ einbürgerte.[261] Die Idee Arnolds wurde, wie gesagt, von anderen sofort aufgegriffen und literarisch verbreitet. Für uns schließt sich die Frage an, wann der übliche literarische Vorlauf so weit gediehen war, daß die Zeit reif war für die ikonographische Umsetzung dieser Idee.

 

Bevor wir aber dieser Frage nachgehen, müssen wir unser Augenmerk noch auf den Interzessor Jesus richten, der ja ebenfalls eine entscheidende Figur der Pestbilder darstellt und dessen Funktion in der Heilstreppe Arnolds gleichermaßen neu definiert wird.

 

3.3.5        Der Schmerzensmann als Fürsprecher

 

Zu den Grundwahrheiten der christlichen Lehre gehört die Mittlerschaft Jesu Christi. Daß es zwischen Gott und den Menschen einen Mittler geben kann, ist ein Gedanke, der im tiefsten erst seit der Menschwerdung Jesu möglich geworden ist. Die Menschen des Alten Bundes hatten es unmittelbar mit Gott zu tun, gehorsam seinem Gesetz. Es finden sich auch dort Ansätze einer Mittlerschaft, wenn das Volk zum Beispiel Moses bittet: “Rede du mit uns, dann wollen wir hören. Gott soll nicht reden, sonst sterben wir.“ (Ex 20,19). Und als Gott das Volk wegen des Bundesbruchs vernichten und Moses zum Stammvater eines neuen Gottesvolkes machen will, setzt der sich entschieden für das Volk ein. Und „da ließ sich der Herr das Böse reuen, das er seinem Volke angedroht hatte.“ (Ex 32,14). Trotz allem bleibt Moses als Mensch ganz auf der Seite der Menschen; er hat keine Mittelstellung zwischen Gott und den Menschen, kann also nicht wesenhaft Mittler sein.

 

Die Botschaft des Neuen Testaments ist ihrem Wesen nach auf Mittlerschaft angelegt, und Jesus wird ausdrücklich Fürbitter, Anwalt, Mittler genannt. Neben den vielen Schriftstellen von der Fürbitte Jesu im Johannesevangelium, dort besonders bei den Abschiedsreden im Abendmahlssaal, betonen auch die anderen Evangelien und die Apostelbriefe die Mittlerfunktion Jesu in immer neuen Wendungen. Um nur ein paar Stellen zu nennen: „Christus Jesus, der gestorben ist, sitzt zur Rechten Gottes und tritt für uns ein.“ (Rom 8,34). „Darum kann er auch die, die durch ihn vor Gott hintreten, für immer retten; denn er lebt allezeit, um für sie einzutreten." (Hebr 7,25). „Wenn aber einer sündigt, haben wir einen Beistand beim Vater: Jesus Christus, den Gerechten.“ (1 Jh 2,1). „Einer ist Gott, einer auch Mittler zwischen Gott und den Menschen: der Mensch Christus Jesus, der sich als Lösegeld hingegeben hat für alle.“ (1 Tim 2,5 f.).

 

Diese Schriftstelle aus dem 1. Timotheusbrief umschreibt am besten den Doppelcharakter der Mittlerschaft Jesu: Er ist Mittler kraft seiner Menschwerdung; er steht zugleich als Gott auf der Seite Gottes und als Mensch auf der Seite der Menschen. Weil sich in seiner Person göttliche und menschliche Natur vereinen, ist er wesenhaft der geborene Vermittler. Die Schriftstelle beschreibt aber auch, wodurch die Mittlerschaft für uns heilswirksam geworden ist: Er hat sich als Lösegeld hingegeben für uns alle. Jesus ist wesenhaft und durch sein Opfer unser Mittler.

 

Die entscheidende Tat Jesu „für uns“ war die Hingabe seines Lebens. Durch seine Selbsthingabe an den Vater „hat er eine ewig gültige Erlösung bewirkt.“ (Hebr 9,12). „Mit dem einmaligen Opfer hat er ein für allemal die zur Vollendung geführt, die sich heiligen lassen.“ (Hebr 10,14).

 

Man hätte meinen sollen, daß die Erlösungstat und die bleibende Mittlerschaft Jesu als Evangelium, als unaufhörliche Frohbotschaft die Christenheit hätte begleiten müssen. Aber es mischte sich schon sehr bald Traurigkeit, die verbreitete Grundstimmung der antiken unerlösten Welt, in das Lebensgefühl der Christen. Die Erfahrung der Versuchbarkeit und der fortbestehenden Sündhaftigkeit ließ die Herrlichkeit, die man einmal gesehen hatte (vgl. Jh 1,14), wieder verblassen. Schon der Hebräerbrief muß sich mit dem Problem der zweiten Buße auseinandersetzen und kommt zu einem sehr negativen Ergebnis: „Wer einmal erleuchtet war, die Himmelsgabe genossen und den Heiligen Geist empfangen hat, wer das herrliche Gotteswort und die Kräfte der künftigen Welt gekostet hat und dann abgefallen ist, läßt sich unmöglich wieder zur Umkehr bringen. Ein solcher schlägt auch den Sohn Gottes ans Kreuz und gibt ihn dem Gespötte preis.“ (Hebr 6,4-6; vielleicht noch stärker 10,26-31).

 

Der spätere Bußstreit hatte über Jahrhunderte hin dieses Thema auf der Tagesordnung. Augustinus (354-430) schon gebraucht mehrmals das bedrohliche Wort: „Deus, qui nullum peccatum impunitum dimittit“ (Gott erläßt keine Sünde unbestraft.). Angenendt sagt dazu: „Es ist, wenn man sich die Gleichnisse vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Sohn vor Augen hält, eine geradezu unbegreifliche Aussage, die sich gleichwohl wie ein ‚Ursatz‘ durch die ganze mittelalterliche Frömmigkeit und Theologie zieht.“[262] Nur harte Bußleistungen konnten als Äquivalent für begangene Sünden gelten. Die iro-schottische Mission hatte auch auf dem Festland die strengen Maßstäbe ihrer Heimatinseln durchgesetzt.

 

Wo war der Glaube an das Heil wirkende Opfer Jesu geblieben, wo das frohstimmende Bewußtsein seiner bleibenden Mittlerschaft beim Vater? Gott war wieder zum bedrohlichen Richter geworden und Christus vom Anwalt zum Ankläger. Die Menschen fühlten sich als Sünder, und die Aussichten, in den Himmel zu kommen, standen sehr schlecht.

 

Angesichts dieses vorherrschenden Lebensgefühls war es für die Menschen eine Frage auf Leben und (ewigen) Tod, in Maria eine so mächtige Fürsprecherin zu haben, daß sogar Gottvater ihr keine Bitte abschlagen mochte. Bei Arnold von Chartres zeigt sich indes, daß zumindest bei den Theologen die Mittlerschaft Jesu für das Heil der Seelen unangefochten galt, denn auch Jesus tritt dort als Fürbitter auf. Hält man sich zusätzlich vor Augen, wie gerade im Zisterzienserorden die Liebe zu Jesus in neuer Weise aufblühte und zusammen mit der Marienfrömmigkeit propagiert wurde, so ergibt sich daraus ein freundlicheres Bild von der religiösen Einstellung der Christenheit damals. Man muß wohl festhalten, daß so gegensätzliche Grundstimmungen wie Furcht und Vertrauen neben- oder miteinander existierten.

 

3.3.6        Die Geburtsstunde der „Heilstreppe“

 

Das Besondere an der Fürbitte Jesu und Marias bei Arnold von Chartres ist nicht, daß Sohn und Mutter gemeinsam vor Gottvater hintreten. Marias Gebet richtet sich vordergründig gar nicht an den Vater; es heißt an der berühmten Stelle: Maria Christo (ostendit) pectus et ubera. Maria wendet sich mit ihrer Geste unmittelbar an Jesus. Sie verweist auf ihre mütterlichen Dienste, die sie ihm geleistet hat und um derentwillen sie gleichsam einen Anspruch auf seinen Dank erworben hat. Diesen Dank will sie nicht für sich; er soll vielmehr durch die verstärkte Fürbitte Jesu den Menschen zugute kommen, die auf diese Weise einen um so sichereren Zugang (securum accessum) zum Vater haben.

 

Maria bittet Jesus und unterstützt die Bitte durch ihre mütterliche Geste der Brustweisung, Jesus nimmt diese Bitte auf und leitet sie an den Vater weiter, sie seinerseits verstärkend durch den Hinweis auf die geöffnete Seite, Symbol seines Erlösungsleidens und der unendlichen Verdienste, die er für die Menschen erworben hat. Und der Vater nimmt diese Bitte an; angesichts dieser Fürsprache kann er nicht anders handeln: der Mensch hat einen sicheren Zugang zu Gott!

 

Die Betonung der Wunden, insbesondere der Seitenwunde, bei der Fürsprache Jesu geht natürlich auf die Heilige Schrift zurück. Johannes nimmt mehrmals darauf Bezug: 19,34+37; 20,20+25+27. Dabei wird die Anknüpfung an Is 53,5 deutlich: “Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Die Wunden repräsentieren die ganze Erlösungstat.

 

Wie oben erwähnt, wird dieses stufenartige Ansteigen der Fürbitte zu Gott als „Heilstreppe“ (Scala salutis) bezeichnet: Die Menschen setzen ihre Hoffnung auf Maria, Maria bittet auf diese besondere Weise Jesus, dieser leitet die Bitte an den Vater weiter und unterstützt sie durch den Hinweis auf seine geöffnete Seite.

 

St. Bernhard, der das ganze Mittelalter hindurch statt Arnolds von Chartres als Verfasser des bedeutsamen Textes galt, hat die Heilstreppe, wie oben schon angedeutet, in sehr ähnlichen Worten wie sein Freund dargestellt. In seiner Predigt zu Mariä Geburt „De aquaeductu“[263] sagt er: „Exaudiet utique Matrem Filius, et exaudiet Filium Pater. Filioli, haec peccatorum scala, haec mea maxima fiducia est, haec tota ratio spei meae.“ (So wird der Sohn die Mutter erhören, und der Vater wird den Sohn erhören. Kindlein, diese Leiter der Sünder, sie ist mein höchstes Vertrauen, sie der ganze Grund meiner Hoffnung.)

 

Es ist mir nicht gelungen den Urheber des Begriffs Heilstreppe auszumachen, obwohl diese Bezeichnung überall in der einschlägigen Literatur verwendet wird. In manchen dieser Abhandlungen hat sich eine Terminologie eingebürgert, die mir der Sache nicht angemessen erscheint. Dieser doch betont personale und mit großen Emotionen besetzte Vorgang der Vermittlung zwischen den Menschen über Maria und Jesus hin zum Vater wird von einigen Autoren mit eher bürokratisch oder gar technokratisch klingenden Ausdrücken beschrieben. Dort ist die Rede von „Instanzenzug“[264], vom „Gedanken eines progressiven Stufensystems der ‚Heilstreppe‘“ und von „kombinierter Interzession“[265]; bei der umgekehrten Handlungsrichtung von Gott dem Richter hin zum strafwürdigen Menschen spricht Esser[266] von der „Instanzen- oder Kausalkette“ oder auch wieder vom „Instanzenzug“, nachdem er vorher Dinzelbacher[267] zitiert hat, der von der „Verbildlichung eines ‚Instanzenzuges‘ von der befehlenden über die übermittelnde zur ausführenden Gewalt“ spricht. Bei derartigen Ausdrücken assoziiert man kaum die liebevolle Fürsprache Jesu und Marias und selbst nicht den Strafvollzug Gottes und seiner Beauftragten.

 

Auf ein mögliches Mißverständnis muß noch aufmerksam gemacht werden: Man darf den Begriff „Heilstreppe“ nicht mit dem der „Himmelsleiter“ verwechseln, der sich im Anschluß an Gen 28, 12 (Jakobs Traum) in der Frömmigkeitsliteratur der Kirche und in der Katechese stets großer Beliebtheit erfreute. Gemeint ist mit diesem Gedanken und in diesem Bild der Aufstieg des Menschen zu Gott. Der hl. Bonaventura (1221 – 1274) hat in seiner Schrift „Itinerarium mentis in Deum“ daran angeknüpft und den mystischen Weg in den drei Stufen Läuterung, Aufstieg und mystische Vereinigung beschrieben.

 

3.3.7        Die ikonographische Umsetzung des Motivs der Brustweisung

 

Es dauerte etwa 200 Jahre, bis die theologische Vorarbeit von Arnold von Chartres, Bernhards und anderer sich auch in Bildern manifestierte. Der übliche literarische Vorlauf von der Entwicklung und Popularisierung eines Gedankens und eines Gedankenbildes bis zur ikonographischen Umsetzung brauchte in diesem Falle eine kaum vermutbare lange Zeit. Man stelle sich diese 200 Jahre einmal in die Gegenwart versetzt vor, um die Spanne besser ermessen zu können.

 

Wie die literarische Quelle eindeutig auszumachen ist, läßt sich auch die bildhafte Umsetzung des Gedankens der Heilstreppe, verbunden mit der Brustweisung, genau fixieren. Es handelt sich um das mittelalterliche Erbauungsbuch, das als „Speculum humanae salvationis“ oder als „Heilsspiegel“[268] Frömmigkeitsgeschichte gemacht hat.

Abbildung 27:      Beispiel für Typus und Antitypus im Speculum humanae salvationis
B) Jacob beklagt den Tod Josephs (Typus)
C) Adam und Eva mit dem toten Abel (Typus)
D) Noemi trauert über den Tod ihrer Söhne (Typus)
A) Maria umfängt ihren toten Sohn (Antitypus)


Das „Speculum humanae salvationis“ erschien um 1324, als sein Verfasser gilt Ludolf von Sachsen (um 1300 – 1378), der besonders durch seine „Vita Christi“, „das meistgelesene Buch des Spät-Mittelalters“[269], bekannt geworden ist. Das Buch war illustriert und oft coloriert und fand eine ungewöhnliche Verbreitung. Noch heute kennt man mehr als 300[270] erhaltene Handschriften. Es bestand in seiner ursprünglichen Fassung aus 34 Kapiteln[271], die sich in einen Bild- und einen Textteil gliederten. Der Bildteil setzt sich zusammen aus je vier kleinformatigen, häufig reich illustrierten und mit erklärenden Worten oder Sätzen versehenen Darstellungen. Diese wiederum gliedern sich (meistens) in eine Szene aus dem Leben Jesu und Marias und in drei alttestamentliche oder historische Vorlagen, die im Sinne der mittelalterlichen Typologie zueinander in Beziehung gesetzt werden. Zu den überkommenen Typen bildet das Neue Testament den Antitypus. (Abb. 27)[272].

 

Eine Ausnahme bildet Kapitel 33[273], das für unseren Zusammenhang von besonderem Interesse ist: Typus und Antitypus werden einander nur jeweils mit einem Bild gegenübergestellt. (Abb. 28). Auf diese Weise wird auf den beiden Buchseiten eine fast spiegelbildliche Gegenüberstellung von Jesu und Marias Interzession möglich, schon fast eine „kombinierte Interzession“ nach der Art etwa der späteren Pestbilder. Die Gleichzeitigkeit und Parallelität der Fürbitte mit entblößter Brust oder offener Seite ist aber schon hier eindeutig gegeben. Wer mittelalterliche Buchillustrationen liebt, kann sich dem Charme der ansprechenden, gedankenreichen und in ihrer Darstellung so bewundernswert naiven Miniaturen nicht entziehen. Ich kann Stephan Beissels Meinung nicht zustimmen, daß „im Spiegel mehrere sog. ‚Votivbilder‘, besonders manche der aus der Profangeschichte genommenen, geschmacklos“ seien.[274]

 

Abbildung 28:      Erste ikonographische Umsetzung des Motivs Arnolds von Chartres
Das „Urbild” der Interzession von Jesus und Maria

 

Christus zeigt seinem sehr jugendlich wirkenden Vater seine Wundmale; die erhobenen Hände signalisieren Fürbitte. Oberhalb des Bildes liest man: Christus ostendit patri suo vulnera sua orans pro nobis (Christus zeigt seinem Vater seine Wunden und bittet für uns). Als (diesmal) einziger Typus stellt das untere Bild Julius Caesar und den Ritter Antipas dar. Dieser zeigt seine erlittenen Wunden, nachdem man ihn bei Caesar verleumdet hatte, im Kampf treulos gegen die Römer gewesen zu sein.

 

Spiegelbildlich auf der gegenüberliegenden Seite sieht man die fürbittende Brustweisung Marias. Ihr Sohn segnet sie und nimmt so ihre Bitte an. Darüber steht: Maria ostendit filio suo orans pro nobis (Maria zeigt ihrem Sohn (die Brüste) und bittet für uns). Als Praefiguration darunter: Hester orat pro populo suo (Esther bittet für ihr Volk), und: Rex aswerus (König Ahasver). Die vollkommen symmetrische Komposition, bis hin zur Beinstellung der beiden Herrscher unten, verleiht der Doppelseite eine beeindruckende Harmonie.

 

Dieser schöne Anfang in der Umsetzung des theologisch schon vorgedachten Fürbittkonzeptes in die volkstümliche Illustration der Heilstreppe fand sehr schnell und an vielen Orten Nachahmung. Mit Recht heißt es von dem doppelten Ursprung: „Die im Spätmittelalter vielfach ausgemalte und abgewandelte Vorstellung von der Fürbitte der Maria und Christi vor Gottvater (...) geht gedanklich auf die bernhardinische Theologie des 12. Jahrhunderts, bildlich auf das ‚Speculum humanae salvationis‘ zurück.“[275]

 

Die Darstellung war bis ins 17. Jahrhundert verbreitet[276], trat dann aber, auch unter dem Einfluß der Reformation und wegen veränderter Frömmigkeitsauffassungen, in den Hintergrund. – Der geschichtlichen Korrektheit wegen sei darauf hingewiesen, daß die Darstellung der Fürbitterin Maria mit entblößter Brust schon im späten 13. Jahrhundert in der englischen Buchmalerei vorkommen soll, allerdings ohne die entsprechende Geste Jesu und ohne feststellbare Öffentlichkeitswirkung.[277]

 

Abbildung 29: Das Mengot - Epitaph
Erstes Tafelbild mit Heilstreppe

Die erste großformatige Darstellung der Heilstreppe nach den an Umfang relativ bescheidenen Miniaturen im Speculum humanae salvationis befindet sich in der uns schon bekannten Zisterzienserkirche in Heilsbronn. Es handelt sich um das nach dem Stifter benannte Mengot-Epitaph von 1370.[278] (Abb. 29).

 

Während das Speculum die beiden fürbittenden Personen noch getrennt (aber spiegelbildlich zusammengehörend) auf zwei Seiten des Buches zeigt, haben wir es hier schon mit der "kombinierten Interzession“ in der Form der Heilstreppe zu tun, bei der Jesus und Maria mit Gottvater und dem Bittsteller zugleich auf einem Bild zusammen dargestellt werden. Die Blickrichtung von Jesus und Maria und die Spruchbänder unterstreichen den Vorgang noch:

Magister Mengot betet kniend und in Voraussicht des Gerichts nach seinem Tode: „Te rogo virgo pia nunc me defende Maria – Ich flehe dich an, gütige Jungfrau Maria, verteidige mich jetzt“. Maria bittet nun Jesus um Gnade für den Beter: „Haec quia sucsisti fili veniam precor isti – Weil du an diesen Brüsten gesogen hast, mein Sohn, erbitte ich Verzeihung für jenen“. (Vgl. Anm.242, S.63). Jesus bittet den Vater um Gewährung der Bitte seiner Mutter: „Vulnera cerne pater fac quae rogetat mea mater – Sieh  meine Wunden, Vater, gewähre, was meine Mutter erfleht“.  Und der Vater stimmt zu: „Quaeque petita dabo fili tibi nulla negabo - Alles Erbetene werde ich dir geben, mein Sohn, und nichts verweigern.“ (Man beachte den Versuch eines Reimes in den lateinischen Aussprüchen!)

 

Deutlich wird hier zugleich, daß es sich nicht um ein Pestbild handelt, dafür ist es noch „zu früh“[279], wohl aber ist hier das typische Fürbittmuster vorbereitet, das dann in keinem Pestbild mehr fehlen wird. (Außer wenn Christus selbst die Wurfpfeile schleudert, wie etwa auf dem Göttinger Bild im Landesmuseum in Hannover.) Dem sind wir bei der Vorstellung der Pestbilder nachgegangen. Aber das Motiv blieb nicht auf diesen Bildtypus beschränkt, sondern fand auch auf die Darstellung anderer, vielleicht noch größerer Notsituationen Anwendung, die hier in der Bitte des Magisters Mengot schon anklingen („me defende – verteidige mich“): auf die Gerichtsbilder.